Wie demokratische Unternehmensstrukturen das Gemeinwesen positiv beeinflussen

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Unter dem derzeit herrschenden kapitalistischen Wirtschaftssystem wird Demokratie am Arbeitsplatz häufig als utopisches Wirtschaftsgefüge der SozialromantikerInnen abgehandelt. Gesamtwirtschaftlich betrachtet stellen demokratische Betriebe zwar nur eine Minderheit im Vergleich zu herkömmlichen Unternehmen dar, allerdings sind sie nicht so selten, wie oft vermutet.

Beispielsweise berichtete das Europäische Komitee der Produktiv- und Sozialgenossenschaften im Jahr 2017 europaweit von ca. 50.000 Unternehmen, die 1,3 Millionen MitarbeiterInnen beschäftigten (http://www.cecop.coop). In den USA schätzte man 2015 ca. 10,8 Millionen Arbeitende, die an Kapitalbeteiligungsprogrammen (ESOPs) in mehr als 6.600 Unternehmen teilnahmen (http://www.nceo.org). Zudem ist die Anzahl an Sozialunternehmen, denen auch diskursive, demokratische Ideen zugrunde liegen, in den letzten Jahren stark angestiegen. Im Jahr 2017 zählte man in Großbritannien ca. 471.000 Sozialunternehmen mit ca. 1,4 Millionen Beschäftigten. Die doch beachtliche Präsenz von demokratischen Betrieben und die Anzahl der darin Beschäftigten kann somit nicht von „fundamentalistischen“ KapitalismusanhängerInnen als reine Utopie abgetan werden. Mehr noch, demokratische Betriebe bieten nicht nur Arbeit für Menschen, sondern sie verfügen über ein demokratisches Lernpotenzial, das für die Persönlichkeitsentwicklung ihrer MitarbeiterInnen und auch für die gesamte Zivilgesellschaft dienlich ist.

Demokratische Organisationsstrukturen

Demokratische Organisationsstrukturen stellen quasi objektive Bedingungen der Organisation und der Arbeit dar, die festlegen, wie MitarbeiterInnen gemäß demokratischen Prinzipien an betrieblichen Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Als Merkmale demokratischer Organisationsstrukturen zählen:

  • das Niveau der Mitbestimmung (z.B. Mitwirkung der abhängig Beschäftigten, paritätische Mitbestimmung in Gremien oder basisdemokratische Selbstbestimmung),
  • die Direktheit der Mitbestimmung (direkt versus repräsentativ),
  • die Reichweite der Entscheidungsbeteiligung (Beteiligung an taktischen – mittelfristigen – und/oder strategischen – langfristigen und weitreichenden – Unternehmensentscheidungen) sowie
  • die MiteigentümerInnenschaft der MitarbeiterInnen (Gewinnbeteiligung, Kapitalbeteiligung, Prozentsatz der Arbeitenden, die am Gesamtkapital beteiligt sind, Prozentsatz des Kapitals, an dem die MitarbeiterInnen beteiligt sind).

Es handelt sich daher um verbindliche, nicht bloß fallweise gewährte, Kompetenzen der direkten oder indirekten Mitwirkung, Mitbestimmung oder Selbstbestimmung der Arbeitenden. Der Demokratiegrad kann variieren. Je höher das Niveau, je direkter die Mitbestimmung, je weitreichender die Entscheidungsbeteiligung in einem Betrieb strukturell verankert und je mehr MitarbeiterInnen am Großteil des Gesamtkapitals beteiligt sind, umso höher ist der Demokratiegrad. Daher gibt es auch eine Vielzahl an demokratischen Betrieben, die sich in ihrem Demokratiegrad unterscheiden.

Beispiele für relativ mäßigen Demokratiegrad:

  • Partnerschaftsunternehmen mit erweiterter Mitsprache und oftmals Beteiligung der Beschäftigten am Gewinn und/oder Produktivkapital (z.B. GEA / Waldviertler Schuhwerkstätten in Österreich und Deutschland, die sich gegenwärtig in eine Erzeuger-Verbraucher-Genossenschaft mit höherem Demokratiegrad umwandelt) sowie
  • konventionell geführte Belegschaftsunternehmen bzw. Produktivgenossenschaften, in denen eine Minderheit der Beschäftigten das Eigenkapital besitzt (z.B. Gerätewerk Matrei in Tirol)

Beispiele für relativ hohen Demokratiegrad:

  • Demokratisch strukturierte Produktivgenossenschaften bzw. Belegschaftsunternehmen, in denen eine Mehrheit der Beschäftigten das Eigenkapital besitzt (z.B. Sprachschule Alpha & Beta in Südtirol),
  • demokratisch verfasste Reformunternehmen mit vollparitätischer Mitbestimmung in bestimmten taktischen und strategischen Angelegenheiten (z.B. Tele-Haase Steuergeräte Ges.m.b.H. in Wien; Hoppmann Autowelt in Siegen; Stasto KG in Innsbruck) und
  • Selbstverwaltete basisdemokratische Unternehmen in Belegschaftsbesitz (z.B. Café Ruffini GmbH in München; Hermes FahrradbotInnen in Wien; Oktoberdruck in Berlin)

Gemeinwesenbezogene Wertorientierungen

In der Tradition der demokratischen Grundwerte „Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit“ lassen sich viele gemeinwesenbezogene Wertorientierungen bzw. Handlungsbereitschaften von mündigen BürgerInnen beschreiben, z. B.

  • Schutz der Menschenwürde,
  • Toleranz gegenüber anderen Meinungen und Lebensweisen,
  • aktive politische Partizipation,
  • gleiche Rechte für alle,
  • Verständigungsbereitschaft über faire Prozeduren zur Konfliktregulierung,
  • Kompromiss-, Legitimations- und Reflexionsbereitschaft,
  • Zivilcourage,
  • Engagement gegen soziale Diskriminierung.

Diese gemeinwesenbezogenen Wertorientierungen sind elementar für die Zivilgesellschaft und dienen dem Erhalt demokratischer Gesellschaften. Wenn viele BürgerInnen solch demokratische und humanistische Wertorientierungen aufweisen und in einem gewissen Umfang ihren alltäglichen Umgang miteinander daran ausrichten, kommt man dem Ziel einer demokratischen Gesellschaft näher, nämlich: ein gutes Leben für Alle zu sichern.

Das Lernpotenzial von demokratischen Betrieben

Wenn demokratische und humanistische Wertorientierungen für den Erhalt einer demokratischen Gesellschaft so wichtig sind, wie kann man sie erlernen? Aus psychologischer Sicht prägen primär Familie, Gleichaltrigenbeziehungen und Schule im Kindheit- und Jugendalter die persönlichen Merkmale von Individuen, aber die Persönlichkeitsentwicklung ist mit dem Erwachsenenalter nicht abgeschlossen. Die Lebensspannenperspektive geht davon aus, dass Aufgaben, Anforderungen, und Handlungsmöglichkeiten aus unterschiedlichsten Umwelten über die gesamte Lebenszeit hinweg zu Persönlichkeits- und Einstellungsveränderungen führen können. Eine sehr dominante Umwelt im Erwachsenenalter stellt das Arbeitsleben dar. Interdisziplinäre Forschungen belegen, dass Arbeit und Organisationsstrukturen einen substanziellen Einfluss unter anderem auf kognitive und motivationale Aspekte der menschlichen Persönlichkeit haben.

Demokratische Organisationsstrukturen mit ihren Mitwirkungspraktiken eignen sich besonders dafür, dass Beschäftigte sozial verantwortliche Einstellungen und Handlungsorientierungen (weiter) entwickeln können. Wenn MitarbeiterInnen an anspruchsvollen Entscheidungen mitwirken können, müssen sie sich an Diskussionen beteiligen, Informationen teilen, andere Perspektiven einnehmen, eigene Meinungen reflektieren und möglicherweise konträre Meinungen akzeptieren. Somit bieten demokratische Betriebe Gelegenheiten, moralische Kompetenzen, Hilfsbereitschaft, bürgerschaftliche und demokratische Werte zu entwickeln und sich für das Wohl ihrer Gesellschaft einzusetzen. Im Einklang mit Pateman’s (1970) Spillover-Hypothese bilden diese Gelegenheiten ein Sozialisationsfeld für die MitarbeiterInnen, welches gemeinwesenbezogene Wertorientierungen fördern kann. Die Spillover-Hypothese geht davon aus, dass Arbeitende, die im Arbeitskontext prosoziales Verhalten erlernen (z.B. durch eine demokratische Arbeitsumgebung), dieses auch außerhalb des Arbeitsbereichs, in ihrem sozialen und gesellschaftlichen Leben zeigen.

Wissenschaftliche Studie: Das ODEM-Projekt

In einer eigenen Untersuchungsreihe konnten wir anhand von 30 hierarchisch und demokratisch strukturierten Betrieben mit insgesamt 542 teilnehmenden MitarbeiterInnen positive Effekte von demokratischen Organisationsstrukturen auf gemeinwesenbezogene Wertorientierungen der Arbeitenden nachweisen. Je stärker die demokratische Organisationsstruktur ausgeprägt war, desto stärker wiesen die MitarbeiterInnen gemeinwesenbezogene Wertorientierungen auf, die sich durch humanistische Werte, Bereitschaft zu kosmopolitischem und demokratischem Engagement auszeichneten. Dabei erlebten sie sich als wirksam, zu mehr Gerechtigkeit in der Welt beitragen zu können. Im Sinne der Spillover-Hypothese treten gemeinwesenbezogene Wertorientierungen besonders dann auf, wenn die betreffenden Beschäftigten bereits eine arbeitsbezogene prosoziale Orientierung (Hilfeverhalten, Höflichkeit, Perspektivenübernahme, Solidarität) in ihrem direkten Arbeitsumfeld entwickelt haben.

Mit unseren Studien konnten wir zwar direkte Zusammenhänge zwischen demokratischen Organisationsstrukturen und gemeinwesenbezogenen Wertorientierungen nachweisen, die kausale Richtung der Effekte können wir aber mit einer Einzelerhebung nicht bestätigen. Dazu wären breit angelegte Längsschnittuntersuchungen notwendig. Diese könnten Effekte der vorberuflichen Sozialisation (Familie, Schule, Gleichaltrigengruppen) und der Selektion (Arbeitende mit humanistischen Wertorientierungen suchen sich demokratische Betriebe, in denen sie ihre Werte leben können) mitberücksichtigen. Unser Forschungsteam in Innsbruck arbeitet an der Planung einer solchen Längsschnittuntersuchung.

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Autorin

Christine Unterrainer
Ch. Unterrainer

Christine Unterrainer
Universitätsassistentin am Institut für Psychologie, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck.
Forschungsschwerpunkt: Organisationale Demokratie, Partizipation und Organisationsklima – Lernpotenziale für die Persönlichkeitsförderlichkeit der MitarbeiterInnen und für die Gesellschaft.
Forschungsgruppe ODEM: Wolfgang G. Weber, Christine Unterrainer und Thomas Höge