Vor 130 Jahren verkündigte Papst Leo XIII. die erste Sozialenzyklika Rerum novarum – Anlass genug zu fragen, ob 2021 katholisch-soziale Ideen noch aktualisierbar und konkretisierbar sind und inwiefern sie sich verändert haben.
Über die Aktualisierung katholisch-sozialer Ideen
Im Kontext der Pandemie findet Solidarität in dem Verständnis, wie es in der katholischen Soziallehre entwickelt worden ist, Eingang in die aktuellen gesellschaftlichen Diskurse, d.h. als eine gesamtgesellschaftliche Solidarität über die Grenzen von Klassen, sozialen Milieus, Interessensvertretungen und Berufsgruppen hinweg. Im katholisch-sozialen Denken folgt nämlich aus „Gemeinverstrickung“ „Gemeinhaftung“, wie dies O. v. Nell-Breuning, der Nestor der katholischen Soziallehre, formuliert hat. Das heißt, weil wir in arbeitsteiligen und globalisierten Gesellschaften existentiell voneinander abhängig sind, sind wir auch wechselseitig füreinander verantwortlich und haben rechtliche Verpflichtungen gegenüber einander. Es geht um eine eher „kalte“ Solidarität als Rechtspflicht, und zwar v.a. hinsichtlich der Absicherung gegen die größten Lebensrisiken, wie Armut oder Krankheit.
Die Solidarsysteme, wie Sozialversicherungen, Wohlfahrtspflege und Sozialpartnerschaft des österreichischen Sozialmodells bewähren sich in Coronazeiten als krisenfest. Das zeigt sich z.B. daran, dass Steuerzahlende Solidaritätslasten zu Gunsten von Unternehmen tragen oder dass die, für Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen auf lange Frist vorteilhafte, Kurzarbeit solidarisch finanziert wird. Das zeigt sich aber auch an der Forderung der Aufstockung des Arbeitslosengeldes, um das Armutsrisiko für Arbeitnehmer:innen bzw. Arbeitssuchende zu verringern.
All dies ist letztlich Ausdruck eines ausgeprägten gesamtgesellschaftlichen Solidaritätsverständnisses katholischer Prägung.
Über die Veränderbarkeit katholisch-sozialer Ideen
Wie der Katholizismus selbst sind katholisch-soziale Ideen vielfältig und veränderbar. So interpretiert Papst Franziskus z.B. das Solidaritätsprinzips in Laudato si (2015) und Fratelli tutti (2020) mit einer eigenen Schwerpunktsetzung, die nur zum Teil den älteren Texten zur katholischen Soziallehre, wie z.B. Quadragesimo anno (1931) oder auch Sollicitudo rei socialis (1987) entspricht.
Solidarität als soziale Liebe?
Solidarität wird in der katholischen Soziallehre zum einen als Rechtsprinzip und zum anderen als Prinzip der Nächstenliebe thematisiert. Als Rechtsprinzip zielt Solidarität auf die Schaffung sozialstaatlicher Strukturen und Solidarsysteme in den Bereichen Arbeitslosigkeit, Alters- und Gesundheitsversorgung. Als Prinzip der Nächstenliebe zielt es auf Hilfsbereitschaft in den sozialen Lebenswelten wie Familie oder Freundeskreis.
Nach Papst Johannes Paul II. ist Solidarität stärker eine Materie sozialer Gerechtigkeit. Er schreibt in Sollicitudo rei socialis 38: Solidarität ist „nicht ein Gefühl vagen Mitleids oder oberflächlicher Rührung wegen der Leiden so vieler Menschen nah oder fern. Im Gegenteil, sie ist die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das ‚Gemeinwohl‘ einzusetzen, das heißt, für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle verantwortlich sind.“
Solidarität als soziale Gerechtigkeit und als soziale Liebe werden in der Tradition der katholischen Soziallehre aber nie getrennt voneinander betrachtet: In Quadragesimo anno 88 wird soziale Liebe als die „Seele“ der gerechten Ordnung definiert.
Bis zum Pontifikat von Benedikt XVI. hatte aber letztlich die Lesart, dass Solidarität rechtlich verankert sein soll, Priorität. Bei Benedikt und nun auch bei Franziskus verschiebt sich der Schwerpunkt von Gerechtigkeit auf soziale Liebe und Barmherzigkeit.
Das ist aus theologisch-sozialethischer Sicht nicht unproblematisch, denn nur Rechtsansprüche auf solidarische Fürsorge, Sicherung und Daseinsvorsorge verhindern, dass in Not Geratene auf das barmherzige Entgegenkommen ihrer Mitmenschen, das letztlich willkürlich ist, angewiesen sind. Nur Rechtsansprüche, die gleichermaßen für alle gelten, verhindern die vage Beliebigkeit der liebenden Zuwendung, die eben nur die Not sieht und lindert, die sie persönlich anrührt.
Solidarität und Nachhaltigkeit!
In Laudato si erweitert Franziskus Solidarität durch ein umfassendes Verständnis von Nachhaltigkeit. Wechselseitige Verantwortung wird ergänzt durch den Aspekt der Ressourcenschonung und der Ermöglichung von Regeneration. Solidarität bezieht sich nicht mehr allein auf Personen, sondern auf die Schöpfung insgesamt; Franziskus schreibt unter der Überschrift „Der Wert der Solidarität“ in FT 117: „Wenn wir von der Sorge um das gemeinsame Haus unseres Planeten sprechen, dann berufen wir uns auf dieses Minimum an universalem Bewusstsein und an gegenseitiger Fürsorge, die in den Menschen noch verblieben ist.“ Ihm geht es in seiner Idee von öko-sozialer Transformation um die Vorbeugung von öko-sozialer Destruktion, d.h. um Ressourcenschonung in zweierlei Hinsicht: zum einen um eine Begrenzung von Umweltnutzung und zum anderen um eine Begrenzung der Nutzung von Arbeitsvermögen – und diese beiden Aspekte sind nicht unabhängig voneinander zu betrachten.
Solidarität vs. Liberalismus?
In Fratelli tutti beschwört Franziskus die „Geschwisterlichkeit aller Menschen“ (FT 9) und übt harsche Kritik am Individualismus in Form des Liberalismus. Seine bekannte Kritik am Wirtschaftsliberalismus steht sicherlich in der Tradition der katholischen Soziallehre. Wobei es in der Sozialverkündigung in der Regel nicht allein um Limitation, sondern immer auch um Legitimation von Marktwirtschaft gegangen ist.
Der Papst übt nun allerdings eine pauschale Liberalismuskritik, also nicht nur eine Kritik am Wirtschaftsliberalismus sondern auch eine Kritik am politischen Liberalismus. Das ist v.a. mit Blick auf die Enzyklika Pacem in terris (1963) ungewöhnlich, die als Menschenrechtsenzyklika gilt und die Wende zur Autonomie auf dem II. Vatikanum. In Gaudium et spes und Dignitatis humanae (1965) eignet sich die katholische Soziallehre den Kerngedanken des Liberalismus an – zum einen in Form der personalen Autonomie, also der Anerkennung der Menschenwürde und der Menschenrechte, insbesondere in Form der Religionsfreiheit, zum anderen in Form der Anerkennung der Autonomie der gesellschaftlichen Teilsysteme. Letztere betrifft natürlich auch das Wirtschaftssystem in seiner Eigengesetzlichkeit. In diesem Zusammenhang sei an den wirtschaftsethischen Dreischritt Johannes Schaschings erinnert, neben menschen- und gesellschaftsgerecht immer auch sachgerecht zu wirtschaften; Schasching schreibt in Renaissance der Wirtschaftsethik?: „Eine Ethik, die die Sachkenntnis der Wirtschaftsgesetze übergehen zu können glaubt, ist nicht Ethik sondern Moralismus.“ Franziskus’ Kritik am Neoliberalismus, der eben nicht als menschen- und gesellschaftsgerecht bezeichnet werden kann, hat durchaus ihre Berechtigung. Aber die Pauschalität, mit der er sich gegen den Liberalismus stellt, ist theologisch-sozialethisch problematisch. Er unterscheidet nämlich Neoliberalismus nicht vom politischen Liberalismus, in dem es um Menschenrechte, Bürgerrechte, freie Meinungsäußerung, Religionsfreiheit, demokratische Teilhabe und individuelle Verwirklichungschancen geht.
Gewissermaßen schüttet Franziskus diesen politischen Liberalismus mit dem neoliberalen Bade aus und setzt ihn auch in eine Opposition zum Solidaritätsdenken. Dabei ist die soziale Verwiesenheit, aus der Solidarität erwächst, dem Freiheitsdenken natürlich nicht fremd. Es geht im politischen Liberalismus um individuelle Freiheit in sozialen Kontexten, um konkrete oder auch soziale Freiheit.
Außerdem stellt mit Blick auf die „Option für die Armen“ der politische Liberalismus eine enorme Ressource dar, indem er den Blick auf die Leiderfahrungen und Ungerechtigkeitserfahrungen des Individuums lenkt. Jede:r Einzelnen muss nämlich Rechtfertigungen für Leid und Ungerechtigkeit, die ihr oder ihm widerfährt, einfordern können – eben auch die gesellschaftlich Marginalisierten.
Über die Konkretisierbarkeit katholisch-sozialer Ideen
Zum Schluss sollen nur zwei mögliche Konkretisierungen genannt werden:
Solidarität konkret. Das Recht auf soziale Sicherung ist auch auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse auszudehnen. Es bedarf einer rechtlichen Regulierung von atypischen Arbeitsverhältnissen, gerade mit Blick auf die Zeit nach Corona und auf die globalisierte Welt.
Nachhaltigkeit konkret. Eine Begrenzung der Erwerbsarbeit ist notwendig und zwar im Sinne der Ressourcenschonung des Arbeitsvermögens. Sozial destruktive Arbeit, d.h. eine Übernutzung durch Fremdbestimmung oder durch Selbstausbeutung, gefährdet auf lange Frist die einzelne Person, den gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie die Demokratie.
Wie und welche Impulse aus der katholischen Soziallehre in die politische Praxis Eingang finden, bleibt selbstverständlich stets den gesellschaftlichen Akteuren in politischen Aushandlungsprozessen überlassen.
Literaturtipp
AmosInternational: Fratelli tutti, 15. Jg. (2021) Heft 1.
Autorin
Dr. Katja Winkler
ist seit 2019 Ass.-Professorin für Christliche Sozialwissenschaften am Johannes Schasching SJ Institut der KU Linz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Katholizismus und Religionsfreiheit, Postkoloniale Sozialethik, Befähigung (Capabilities approach) in der theologischen Ethik.