Zur Ideologie der Neuen Rechten in Europa
In zahlreichen Staaten bestimmen seit vielen Jahren neorechte Parteien in zunehmendem Ausmaß das politische Geschehen in Europa. Die Bewegungen von Le Pen, dem Flamsblock bis hin zur FPÖ und jüngst die Afd in Deutschland stellen sowohl die liberale Demokratie als auch das Friedensprojekt der Europäischen Union in Frage. Die neorechten Parteien sind nicht aus dem Nichts entstanden, sondern aus dem moralischen Vakuum, das der Sturmwind der neoliberalen Ideologie in den letzten 30 Jahren hinterlassen hat. In dieser Zeit hat die moralische Substanz sowohl sozialdemokratischer als auch christdemokratischer Parteien gleichsam eine Kernschmelze durchgemacht. Kurz: So wie der Faschismus eine Reaktion auf den entfesselten Liberalismus war, so ist die neorechte Ideologie eine Antwort auf den Neoliberalismus. Die Flüchtlingsströme, die sich wegen des Zerfalls des Vorderen und Mittleren Orients und der Instabilität zahlreicher afrikanischer Staaten nach Europa bewegen, haben in jüngster Zeit zu einem dramatischen Aufstieg neorechter Parteien geführt, die in manchen Ländern bereits zur stimmenstärksten Partei aufgerückt sind.
Zur Ideologie neorechter Bewegungen
In der medialen Öffentlichkeit, aber auch in der politischen Wissenschaft werden neorechte Parteien oft unter dem Stichwort „Populismus“ abgehandelt. Auch wenn dieser Begriff inzwischen fest etabliert ist, scheint er mir doch problematisch zu sein. Denn zumindest in der Alltagssprache suggeriert „Populismus“ eine weithin ideologiefreie Politik, die sich bloß den schwankenden Stimmungen des „Volkes“ anpasst. Mit anderen Worten: Die Ideologie des Populismus besteht gerade darin, keine feste Ideologie zu haben. Doch diese Diagnose scheint mir eine gefährliche Verharmlosung neorechter Parteien zu sein.
Manche analysieren das Phänomen neorechter Parteien im Licht von psychologischen Kategorien (Ressentiments gegenüber Fremden und gegenüber den „etablierten“ Parteien, Abstiegsängste der Mittelklasse u.a.) Neorechte Bewegungen werden zuweilen auch als ein Korrektiv gegen die verkrusteten Strukturen der etablierten Parteiendemokratien wahrgenommen, die als Protestbewegungen keine Ambitionen für eine Regierung hätten. Diese Analysen sind nicht falsch, doch sie unterschätzen jeweils das ideologische Weltbild neorechter Bewegungen.
Mit Jan-Werner Müller sehe ich in neorechten Bewegungen eine bestimmte, gewiss flexible Ideologie, die die Prinzipien und Werte rechtsstaatlicher Demokratien, wie sie nach dem 2. Weltkrieg in Europa aufgebaut worden sind, in einem gefährlichen Sinn aushöhlen.[1]
Das grundlegende Konzept neorechter Ideologie ist in Frankreich im Umkreis der Le Pen-Bewegung entstanden. Die zentrale ideologische Stoßrichtung zeigt sich vor allem bei Alain de Benoist, einem der Chefideologien der „Nouvelle Droite“.[2] Er grenzt die Neue Rechte streng vom alten Faschismus ab. Die faschistischen Bewegungen in der Zwischenkriegszeit bauten auf zwei Säulen auf: Erstens waren die faschistischen Bewegungen offen antidemokratisch; ihr Ziel war die notfalls gewaltsame Beseitigung der Demokratie. Zweitens bauten die faschistischen Bewegungen auf einem Rassismus auf. Die NS-Ideologie teilte die Menschheit bekanntlich in die arische Herrenrasse und in minderwertige Rassen, die entweder als Arbeitskräfte auszubeuten oder wie Ungeziefer auszurotten sind. In der neorechten Ideologie werden diese beiden Grundelemente des Faschismus eliminiert. Dies bedeutet: Neorechte Bewegungen bejahen sowohl die Bürgerrechte als auch die Demokratie; sie verzichten daher auf eine gewaltsame Machtübernahme und stellen sich demokratischen Wahlen. Zweitens ersetzen neorechte Parteien den „alten“ Rassismus durch einen „Ethnopluralismus“, in dem die Anerkennung der verschiedenen Ethnien und Kulturen in ihrem jeweiligen Territorium gefordert wird. Ein Schlüsselbegriff neorechter Ideologie ist daher die Bewahrung der „ethnischen Zusammensetzung“ einer Nation. Seit 1986 ist neben der Le Pen-Bewegung die Freiheitliche Partei Österreichs zu einem der wichtigsten Protagonisten neorechter Ideologie in Europa aufgestiegen. Jörg Haider hat den Kern neorechter Ideologie prägnant zum Ausdruck gebracht: „Wird aber Politik nicht auf ethnischen Prinzipien aufgebaut, dann hat die Menschheit überhaupt keine Zukunft.“[3]
In der Frage, wie die Ethnie inhaltlich jeweils näher bestimmt wird, gehen allerdings neorechte Parteien weit auseinander. Alain de Benoist vertrat eine antichristliche, dezidiert „heidnische“ Sicht der französischen Nation. In jüngerer Zeit haben sich manche neorechte Parteien, unter anderem auch die FPÖ, plötzlich dem Christentum zugewendet. Im Kampf gegen den Islam versteht sich die Neue Rechte neuerdings als Verteidigerin des christlichen Abendlandes.
Die Gefahr neorechter Ideologien besteht darin, dass die jeweilige ethnische Deutung der „Nation“ bzw. des „Volkes“ über die Menschenrechte gestellt wird. Alain de Benoist spricht sogar von der „Ideologie der Menschenrechte“, die als Säkularisierung der christlichen Moral kritisiert wird. Das Ideal der Brüderlichkeit, das neben der Freiheit und Gleichheit die dritte Säule der Französischen Revolution war, muss nach Alain de Benoist auf die Nation eingeschränkt werden. Neorechte Parteien stellen daher die Universalität der Menschenrechte in Frage.
Mehr noch: Neorechte Parteien sehen ihre eigene ethnische Deutung von „Volk“ bzw. “Nation“ als Fundament des Staates an, die daher auch mit staatlichen Mitteln zu sichern ist. Aus diesem Grund hat die FPÖ vorübergehend in ihrem Parteiprogramm ein „Recht auf Heimat“ gefordert, d.h. die Liste der Menschenrechte sollte um ein neues Menschenrecht, nämlich ein „Recht auf Heimat“ ergänzt werden. An dieser Stelle öffnet sich jedoch plötzlich ein Spalt für eine autoritäre Politik. Denn das „Recht auf Heimat“ ist kein Menschenrecht, das mit staatlicher Macht durchgesetzt werden muss bzw. von Bürgern eingeklagt werden könnte. In einer pluralistischen Demokratie sind Begriffe wie „Heimat“ oder „nationale Identität“ vielmehr Gegenstand von öffentlichen Debatten, die auf bestimmten Menschenrechten, vor allem der Meinungs- und Versammlungsfreiheit aufbauen. In dem harmlos erscheinenden „Menschenrecht auf Heimat“ verbirgt sich daher ein äußerst gefährlicher Sprengsatz, der langfristig rechtsstaatliche Demokratien aushöhlt bzw. in autoritäre Systeme verwandelt. Jörg Haider hat daher in Österreich die Errichtung einer „Dritten Republik“ gefordert.
Gewiss: Liberale Demokratien bauen allein auf dem universalistischen Prinzip der Menschenrechte auf, sondern auch auf einem bestimmten Konsens „nationaler Identität“. Selbst Habermas, der nur mehr einen Verfassungspatriotismus für legitim hält, verbindet jedes demokratische Rechtssystem die Universalität der Menschenrechte mit bestimmten Vorstellungen der Erhaltung nationaler Identität. Die Pointe neorechter Ideologien besteht darin, dass sie die Spannung zwischen universalistischen Menschenrechten und partikularen Ideen nationaler Identität einseitig zugunsten der Nation auflösen. Aus diesem Grund versuchen neorechte Parteien im Namen einer völkischen Ideologie die Medien unter ihre Kontrolle zu bringen, die Gewaltenteilung zu schwächen, insbesondere die Unabhängigkeit der Justiz und hier wiederum vor allem das Verfassungsgericht, das nach den Erfahrungen mit dem Faschismus in vielen Ländern erst nach dem 2. Weltkrieg eingerichtet worden ist und eine äußerst wichtige Schutzinstitution rechtsstaatlicher Demokratie ist.
Neorechte Parteien sind daher nicht populistisch in dem Sinn, dass sie sich den schwankenden Stimmungen des Volkes anpassen. Im Gegenteil, neorechte Parteien wissen vielmehr immer schon, was „der“ Wille „des“ Volkes zu sein hat und vor allem wer zum Volk gehört. Roma, Juden, Atheisten, Sozialisten und avantgardistische Künstler sind in der Regel nicht integraler Teil des Volkskörpers.
Viktor Orban als christlicher Protagonist neorechter Ideologie
Neorechte Ideologien sind nicht auf neorechte Parteien beschränkt. Der Geist neorechter Ideologie sickert vielmehr seit Langem in andere, vor allem in christdemokratische Parteien ein. In den letzten Jahren ist mit Viktor Orban ein Christdemokrat sogar zur mächtigsten Leitfigur neorechter Ideologie in Europa geworden. Orban vertritt öffentlich die Idee eines „illiberalen Staates“, die alle Elemente neorechter Ideologie enthält. Mehr noch: Durch die Zwei-Drittel-Mehrheit – auf der Basis von 53% der Wählerstimmen (!) – hat Orban mit der neuen Verfassung zum ersten Mal in Europa einen Staat auf der Basis neorechter Ideologie errichtet. Orban hat daher gleichsam Haiders Traum von einer „Dritten Republik“ verwirklicht.
Die Überordnung der Nation über die Menschenrechte, die ein Kernelement neorechter Ideologie ist, hat Orban selbst in einem Interview in der „Weltwoche“(Nr. 46/Dez. 2015) in aller Klarheit zum Ausdruck gebracht.
„Mein persönlicher Eindruck ist, dass die Elite Europas, wenn es um Fragen geistiger Art geht, nur seichte und zweitrangige Themen debattiert. Nette Sachen wie Menschenrechte, Fortschritt, Frieden, Offenheit, Toleranz. Im öffentlichen Sprachgebrauch reden wir nicht über die fundamentalen Themen, nämlich darüber, woher diese netten Dinge eigentlich kommen. Wir sprechen nicht über die Freiheit, wir sprechen nicht über das Christentum, wir sprechen nicht über die Nation, und wir sprechen nicht über den Stolz. Brutal gesagt: Was heute in der europäischen Öffentlichkeit dominiert, ist nur europäisch-liberales Blabla über nette, aber zweitrangige Themen.“
Der Geist neorechter Ideologie wird in besonderer Weise in der ungarischen Verfassung deutlich, in der in der Präambel Ungarn als christliche Nation vorgestellt wird. Gewiss: In vielen Verfassungen wird in der Präambel die Geschichte der Nation zuweilen idealisierend dargestellt. Doch im Unterschied zu anderen „westlichen“ Verfassungen wird das ungarische Verfassungsgericht verpflichtet, seine Entscheidungen im Licht der Präambel, d.h. des Bildes von der christlichen Nation Ungarn, zu fällen.
Darüber hinaus rückt die aktuelle Flüchtlingsfrage Orbans neorechte Ideologie in ein grelles Licht. Da rechtsstaatliche Demokratien stets Menschenrechte und Ideen einer nationalen Identität vereinen, ringen die Staaten der EU mit der Frage, wie viele Flüchtlinge nach welchem Verteilungsschlüssel aufgenommen werden können. Trotz aller völkerrechtlichen Verpflichtungen gibt es hier ein weites Feld legitimer Abwägungen. Neorechte Ideologien lösen die Spannung zwischen nationaler Identität und Menschenrechten jedoch einseitig auf und fordern einen generellen Einwanderungsstopp. Da die ethnische Reinheit der „christlichen Nation“ bewahrt werden muss, ist für Orban bereits eine minimale Quote von etwas mehr als 1.300 Flüchtlingen nicht mehr akzeptabel.
Gegen die selbsternannten „Verteidiger des Christlichen Abendlandes“
Neorechte Verteidiger des christlichen Abendlandes verraten daher sowohl die Errungenschaft des demokratischen Rechtsstaates als auch den universalistischen Gehalt der christlichen Moral. Vor diesem Hintergrund ist es eine Paradoxie der Geschichte, dass der aus Lateinamerika kommende Papst Franziskus, in dem auch der Geist der Theologie der Befreiung spürbar ist, die europäische ChristInnen sowohl an die menschenrechtlichen Grundlagen der europäischen Demokratie als auch an den Kerngehalt der christlichen Moral erinnern muss. Seine Rede in Lampedusa und der jüngste Aufruf an die Pfarren und Klöster, zumindest eine Flüchtlingsfamilie aufzunehmen, ist auch von Teilen des säkularen Europa intuitiv als originär christliches Zeugnis verstanden worden. Im Gegensatz dazu wird der Papst von selbsternannten neorechten Verteidigern des Christlichen Abendlandes öffentlich beschimpft, zuweilen sogar als Verräter verurteilt.
Die christlichen Kirchen tragen noch heute das schwere Erbe ihrer Allianzen mit den faschistischen Systemen des 20. Jahrhunderts. Eine Komplizenschaft mit neorechten Ideologien würde die christlichen Kirchen bereits am Beginn des 21. Jahrhundert in eine neue Glaubwürdigkeitskrise stürzen, deren Schatten, dies kann jetzt schon mit Sicherheit gesagt werden, Jahrzehnte lang auf dem Leben von ChristInnen lasten würden.
[1] Jan-Werner Müller, What is Populism?, Philadelphia 2015.
[2] Alain de Benoist, Démocratie: le problème, Labyrinthe, 1985.
[3] Jörg Haider, Die Freiheit, die ich meine, Frankfurt/Berlin 1994, S. 224.
Autor
Prof. DDr. Hans Schelkshorn
ist Vorstand des Instituts für Christliche Philosophie der Kath.-theol. Fakultät der Universität Wien und Mitherausgeber der Zeitschrift „Polylog-Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren. Publikationen u.a.: „Entgrenzungen. Ein europäischer Beitrag zum philosophischen Diskurs über die Moderne“, 2016, Velbrück Verlag