Zeitgerecht – zeitbedingt: Katholische Soziallehre in historisch-kritischer Lesart

Wandgestaltung Büro MMH © J. Godany

Blickt man auf die knapp 130jährige Geschichte der Katholischen Soziallehre (KSL), wird deutlich, dass sie sich immer als ein antizyklisches Korrektiv zu dominanten gesellschaftspolitischen Tendenzen ihrer jeweiligen Gegenwart entwickelt hat.

Von Beginn an ist die KSL nicht – wie manch andere Äußerungen des kirchlichen Lehramts – mit dem Impetus eines unverrückbaren, ewig gültigen und in sich abgeschlossenen Lehrgebäudes aufgetreten, sondern will als zeitgemäße Antwort auf soziale Fragen in einem zeitgeschichtlichen Kontext verstanden werden. Diese zeitgeschichtliche Bedingtheit gilt aber nicht nur für die formale Entstehung und Weiterentwicklung der KSL. Auch ihre Inhalte sind in dieser sozialgeschichtlichen Kontextualität und Dynamik zu lesen, zu interpretieren und in Anwendung zu bringen. Andernfalls würde die KSL der Gefahr preisgegeben, nur zu einer weiteren unter anderen gesellschaftspolitischen Ideologien zu „verkommen“ bzw. ideologisch vereinnahmt zu werden.

Ein Beispiel anhand eines zentralen Themas der „Gründungsenzyklika“ Rerum novarum (1891): Die Enzyklika, die sich die Behandlung der Arbeiterfrage des späten 19. Jahrhunderts zum Gegenstand gemacht hat, greift gleich zu Beginn die Eigentumsfrage auf und bestätigt eindeutig ein Recht auf Privateigentum. Die prominente Fokussierung auf dieses Thema hat in der Rezeptionsgeschichte der Enzyklika Irritation ausgelöst und ihr auch viel Kritik eingetragen. Sie ist aber zu verstehen als Ausdruck dafür, dass Pp. Leo XIII. seine Enzyklika zwar als eindeutige gesellschaftspolitische Position auf Seiten der Arbeiterschaft verstanden wissen wollte, allerdings in bewusster Opposition zur sozialistischen Arbeiterbewegung jener Zeit, die ein Recht auf Privateigentum grundsätzlich bestritt.

Ideologischer Missbrauch

Es ist nicht ausgeblieben, dass bestimmte gesellschaftspolitische Kräfte, denen an der rechtlichen Tabuisierung des Privateigentums gelegen war, einzelne Abschnitte einfach in ihrem Sinne lasen und meinten, dieses Interesse mit Berufung auf die päpstliche Enzyklika untermauern zu können. Zu Unrecht! Tatsächlich affirmierten Rerum novarum und spätere Dokumente der KSL das Recht auf Privateigentum zwar mit der Begründung, Privatbesitz allein vermittle „den unbedingt nötigen Raum für eigenverantwortliche Gestaltung des persönlichen Lebens … als eine Art Verlängerung der menschlichen Freiheit“[1]. Ein Recht auf Privateigentum wäre demnach als notwendige Bedingung der Möglichkeit eigenverantwortlichen – und d.h. personal-sittlichen – Handelns im Bereich des Wirtschaftslebens unbedingt anzuerkennen. Allerdings sind diese Affirmationen immer nur als Widerspruch zu Positionen zu lesen, welche ein Recht auf Privateigentum überhaupt negieren! Tatsächlich wurde in der kirchlichen Sozialtradition dieses Recht niemals absolut verstanden. Im Klartext: Wo durch das Privateigentum Einzelner anderen Menschen das zu einem menschenwürdigen Leben Notwendige vorenthalten wird, verliert das Privateigentum auch seine Unantastbarkeit.

Ähnliches ist auch hinsichtlich des Umgangs mit den klassischen Grundprinzipien der KSL – Personalität, Gemeinwohl, Subsidiarität und Solidarität – zu beobachten. Man hat den Eindruck, dass gesellschaftspolitische Kräfte sich gerne einzelner dieser Grundprinzipien bedienen, um mit Berufung auf – zumeist aus dem Kontext gerissene – Passagen päpstlicher Dokumente eigene Positionen „abzusegnen“. Auf christlich-sozialer Seite hält man es diesbezüglich besonders gerne mit der Subsidiarität (Stichwort „Prinzip Eigenverantwortung“), auf sozialdemokratischer Seite mit der Solidarität. Gelegentlich wirkt es, als bediene man sich an der KSL nach Art eines Steinbruchs, aus dem man sich nach Belieben die passenden Brocken herausklaubt.

Kontextuell-antizyklische Entstehungsgeschichte

Tatsächlich verkennt so ein Umgang den kontextuell-antizyklischen Charakter der gesamten KSL. Bei genauer Betrachtung fällt nämlich auf, dass auch deren Ausformulierung immer in einem ganz bestimmten zeitgeschichtlichen und gesellschaftspolitischen Kontext geschieht – und zwar als Gegenposition zu einer in der jeweiligen Zeit gerade besonders starken ideologischen Strömung. So ist das Personalitätsprinzip v.a. als Gegenposition zu einem gesellschaftspolitischen Kollektivismus zu verstehen, das Gemeinwohlprinzip wiederum gegen die liberale Verabsolutierung freier Marktwirtschaft ohne soziale Verpflichtungen, das Subsidiaritätsprinzip wird formuliert gegen einen übermächtigen Staatsdirigismus, das Solidaritätsprinzip wiederum gegen einen grassierenden Individualismus.

Ich persönlich halte dafür, dass das reichhaltige soziale Lehramt Pp. Johannes Pauls II. mit der „Option für die Armen“ ein weiteres Grundprinzip in die KSL eingeführt hat – wiederum nicht kontextlos: V.a. die Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ (SRS, 1987) wendet sich gegen einen gesellschaftspolitischen „Mechanizismus“, der bestimmten Machtverhältnissen und Mechanismen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik quasi naturgesetzliche Autorität und Unabänderlichkeit zuschreibt und damit moralische Verantwortung in diesen Handlungsfeldern zurückdrängt oder überhaupt negiert (Vgl. SRS 16). SRS spricht dagegen klar von „Strukturen der Sünde“ (SRS 36) und benennt damit deutlich die menschliche Verantwortung hinter derartigen Machtstrukturen. Die prononcierte Forderung einer „Option und vorrangigen Liebe für die Armen“ v.a. seitens Politik und Wirtschaft (vgl. etwa SRS 42) ist vor diesem Hintergrund als bewusste Gegenposition zur sozialmechanizistischen Ideologie der 1980er Jahre[2] zu lesen.

Kontextuell-antizyklische Anwendung

Der zeitbedingt-antizyklische Charakter der KSL-Prinzipien fordert auch ihre kontextbezogene Anwendung: Nicht immer sind sie gleich gewichtet in Anschlag zu bringen. Man verkennt ihre Korrektiv-Funktion, wenn man z.B. in einer hochgradig individualisierten und desintegrierten Gesellschaft auch noch das Personalitäts- und Subsidiaritätsprinzip besonders bemüht. Ein solches Vorgehen setzt sich dem Verdacht aus, faktische Verhältnisse bzw. Trends auch noch verstärken und „päpstlich“ absegnen zu wollen. In dieser Situation wäre das Gewicht vielmehr auf gesellschaftspolitische Maßnahmen zu legen, die Solidarität und Gemeinwohlorientierung stärken, während Personalitäts- und Subsidiaritätsprinzip v.a. dort anzuwenden wären, wo die legitimen Lebensinteressen und Gestaltungsspielräume der einzelnen Gesellschaftsglieder kollektiven Interessen geopfert zu werden drohen.

Schließlich muss man sogar sagen, dass die klassischen Grundprinzipien der KSL selbst ein entsprechendes Gegenüber benötigen, um nicht durch einseitige Überbetonung in ideologische Gräben abzugleiten: Personalität braucht Orientierung auf das Gemeinwohl hin, und Subsidiarität darf nie gegen Solidarität ausgespielt werden, sondern findet darin ihre nötige Ergänzung.

Jüngere Entwicklungen

Die Option für die Armen nimmt hier als jüngere Ergänzung zu den klassischen KSL-Prinzipien eine Sonderstellung ein. Aber gerade hier ist das Christentum auf Grundlage des Evangeliums ohnehin zu einer Parteilichkeit ohne Abstriche verpflichtet. Ein ideologischer Graben ist nirgendwo in Sicht, und wenn es ihn denn gäbe, wäre unsere Welt wohl um vieles gerechter – zumindest in einem biblischen Sinn.

Ähnliches gilt für die jüngsten päpstlichen KSL-Dokumente, die das ursprüngliche Gefüge der klassischen KSL-Prinzipien noch erweitern: Pp. Benedikt XVI. etwa formuliert in „Caritas in veritate“ ein „Prinzip der Unentgeltlichkeit“ und eine „Logik des Geschenks“ als Gegenposition zu einem ideologischen „Marktabsolutismus“, der soziale Beziehungen nur noch unter den Vorzeichen von Tausch- und Leistungsgerechtigkeit zu organisieren versucht (CV 36). Und Pp. Franziskus greift in „Laudato si“ die weltweite ökologische Debatte auf, die allzu lange von der KSL vernachlässigt worden war, und führt das Prinzip Nachhaltigkeit in die KSL ein.

An diesen jüngeren oder „neueren“ KSL-Prinzipien wird eine generelle Veränderung in der Grundlegung der KSL sichtbar: Spätestens seit dem 2. Vaticanum löst sich die KSL zusehends von ihrem traditionellen naturrechtlich-sozialphilosophischen Ansatz zu Gunsten einer eher biblisch-theologischen und spirituellen Begründung. Die in diesem Beitrag geforderte zeitgeschichtliche Verortung der KSL in Interpretation und Anwendung stößt hier an gewisse Grenzen, weil die biblische Grundlegung für eine kirchliche Soziallehre natürlich außer Streit steht. Aber letztlich gilt auch für die jüngere Sozialverkündigung der Kirche: Ihre ganze Schärfe und Brisanz wird erst sichtbar vor dem zeit- und sozialgeschichtlichen Hintergrund ihrer Formulierung.

[1] 2. Vatikan. Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 71: AAS 58 (1966) 1092-1093.
[2] Man denke besonders an Margret Thatcher’s ideologisches Leitwort „There is no alternative!“, später als „TINA-Ideologie“ im politischen Diskurs verankert.

Autor

Dr. Markus Schlagnitweit
Markus Schlagnitweit

Dr. Markus Schlagnitweit
Theologe, Sozial- und Wirtschaftsethiker
ksoe-Kooperationspartner
Arbeitsschwerpunkt: Katholische Soziallehre