Vor Kurzem fand ein Modul des Lehrgangs „Soziale Verantwortung“ der ksoe in Sarajevo statt (1). In dieser vor allem muslimischen Stadt finden sich innerhalb weniger Meter Moscheen, Synagogen, katholische und orthodoxe Kirchen. Die Gräben zwischen den Religionen und Ethnien sind aber tief.
Über Zürich führt ein Direktflug nach Sarajevo. Im Landeanflug auf den internationalen Flughafen wird deutlich, dass Sarajevo direkt in den Bergen liegt. Die Stadt und ihre Umgebung ist Heimat für über eine halbe Million Menschen. Der freundliche Fahrer vom Hotelshuttle macht für die BesucherInnen auf der sechsspurigen Hauptstraße gleich eine kleine Sightseeing-Tour. Zwischen Glitzerwolkenkratzern mit Leuchtreklamen von Westmarken finden sich kommunistische Wohnsilos und immer noch vom Krieg ausgebombte Gebäude, nicht zu vergessen die rund hundert Moscheen mit Minaretten, die Kirchen und die Gebäude, die an die österreichisch-ungarische Zeit erinnern. Der Shuttle-Fahrer betont die Pluspunkte der Herrschaft der Habsburger und sagt immer wieder, auf Bauten zeigend: „Es ist wie in Wien.“
Bei einem Abendspaziergang begleitet uns die 1972 in Graz geborene Adelheid Wölfl. Sie ist Südosteuropa-Korrespondentin des „Standard“, lebt in Sarajevo und berichtet regelmäßig aus der Region. Gemeinsam mit dem deutschen Historiker Nicolas Moll führt Adelheid Wölfl die ksoe-Gruppe durch die islamische Fakultät. Sie ist eine österreichische Gründung gleich nach der Annexion 1878 und sollte Richter ausbilden, die sowohl mitteleuropäisches als auch Scharia-Recht anwenden konnten. Ein muslimischer Student begrüßt die Gruppe und zeigt unter anderem den mit wunderschönen Ornamenten islamischer Malerei ausgefüllten Gebetsraum der universitären Bildungseinrichtung.
Religion als Waffe
Am ersten Arbeitstag referieren drei ExpertInnen über Bosnien. Die in Stanford (USA) und Sarajevo lehrende Menschenrechtsaktivistin und Feministin Dr. Zilka Spahic Siljak betont, dass die Körper der Frauen im Krieg als Besitz der Männer in Massenvergewaltigungen misshandelt wurden. Ihre zentrale These ist, dass die Religion, wenn sie in eine Ideologie gezwungen wird, zur Waffe wird. Der Gott der Nationalisten sei die Nation und bringe die Menschen dazu, für die Nation zu sterben und selbst zu morden. Der junge Historiker Hikmet Karcic ergänzt, dass Menschen in Bosnien de facto wegen ihrer Religion getötet wurden. Außerdem beklagt er die Korruption, die in Bosnien System habe. Ein weiterer einheimischer Referent ist der Uniassistent Muhamed Fazlovic, der bei den Jesuiten an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom studiert hat, und der in einem Statement das Mystisch-Spirituelle in allen Religionen herausstreicht.
Veteranen verfeindeter Gruppen treffen sich
Der zweite Arbeitstag ist geprägt durch Besuche bei NGOs (Nicht-Regierungs-Organisationen). Da ist ein Franziskaner, der muslimische, orthodoxe und katholische Kinder in seine Schule aufnimmt. Da ist ein Interreligionsrat, der mit Hilfe der religiösen Führer des Landes ein positiveres Klima schaffen will. Da ist ein Frauenhaus im Umland von Sarajevo, das aus einer Schenkung der Schauspielerin Angelina Jolie entstanden ist und sich gegen häusliche Gewalt wendet und sich für Gewaltopfer aus dem Krieg einsetzt. Spannend ist auch eine Initiative des „Zentrums für Gewaltlosigkeit“, das Kriegsveteranen der verfeindeten Volksgruppen miteinander ins Gespräch bringt.
Propaganda aus einer Hand
Zum Abschluss dieser intensiven Tage findet gemeinsam mit der ksoe-Gruppe ein Runder Tisch mit Journalisten aus der Region statt. Die Informationslage ist frappant. Die Medien und die Politik sind oft in einer Hand, was die Tatsache belegt, dass ein Oligarch gleichzeitig Obmann einer politischen Partei und Zeitungseigentümer ist. Die kritische Sicht der ExpertInnen und das Engagement der NGOs prägte den Besuch in Sarajevo, der bei unserer Gruppe noch lange nachhallen wird.
Infobox: Bosniens Geschichte
Bosnien lag immer im Grenzgebiet größerer Herrschaftsgebiete. Angefangen bei den Römern, Byzantinern, Osmanen bis hin zu den Österreichern. Der unmittelbare Anlass für den Ersten Weltkrieg war 1914 die Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo. 1945 wurde Bosnien Teil des kommunistischen Jugoslawiens unter dem Partisanenführer Tito. Signifikant ist das Jahr 1989, als der serbische Ex-Präsident Slobodan Miloševic vom Kommunisten zum serbischen Nationalisten mutierte, sodass der Krieg Belgrads gegen eigene Republiken möglich wurde.
Die Belagerung Sarajevos durch die Armee der bosnischen Serben in den Jahren 1992-1996 ist heute immer noch stark präsent. Damals wurden 11.000 Menschen (darunter 1.600 Kinder) getötet und 56.000 teilweise schwer verletzt. Die eingeschlossene Bevölkerung – bestehend vor allem aus muslimischen Bosniaken und katholischen Kroaten – war täglich auf offener Straße den serbischen Scharfschützen ausgesetzt. Als geistig-kultureller Widerstand wurde etwa während des Stellungskrieges eine Misswahl abgehalten, die die berühmte Pop-Band U2 zu ihrem Lied „Miss Sarajevo“ inspirierte.
In Srebrenica wurden im Juli 1995 mehr als 8000 Bosniaken getötet. Diesem Völkermord und größtem Verbrechen seit dem 2. Weltkrieg ist eine eigene Ausstellung gewidmet.
Infobox: Bosnien heute
Nach dem Abkommen von Dayton im November 1995 wurde Bosnien in zwei Gebiete aufgeteilt, nämlich die „Republika Srpska“ und die „Föderation von Bosnien und Herzegowina“. Die Nachkriegsordnung spiegelt die Homogenisierung bzw. ethnische Säuberung des ehemals durchmischten Bevölkerungsgebiets wider: Während in der „Republika Srpska“ im Wesentlichen nur noch Serben wohnen, sind es in der Föderation vor allem Kroaten und Bosniaken. Den drei Ethnizitäten entsprechen die Religionen orthodox, katholisch und muslimisch.
(1) Das Lehrgangsmodul in Sarajevo fand zum Thema „Pluralität leben. Gestaltungsraum Nationalstaat“ von 12.- 14.4.2018 statt. Für den nächsten Lehrgang 2018-20 ist ebenfalls wieder ein Modul in Sarajevo unter dem Titel „Herausforderung Pluralität“ geplant.
Der Beitrag erschien zuerst am 26.4.2018 unter dem Titel „Der Islam gehört hier zu Europa“ im Vorarlberger Kirchenblatt.
Autor

Wolfgang Ölz
geb. 1972, Redakteur beim Vorarlberger KirchenBlatt und Kunstkritiker bei der NEUEN Vorarlberger Tageszeitung, Teilnehmer des Lehrgangs „Soziale Verantwortung“ 2016-2018
Der nächste berufsbegleitende Lehrgang „Soziale Verantwortung. Gestaltungskompetenz für den gesellschaftlichen Wandel“ 2018-2020 beginnt am 1. Oktober. > Informationen und Anmeldung
Interessierte sind herzlich eingeladen, an der Abschlussveranstaltung des Lehrgangs 2016-2018 am 22. Juni, 10-12 Uhr, in Wien teilzunehmen > link zur Einladung