Mehr Kopf als Tuch. Muslimische Frauen am Wort.

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„Frömmelnd, fremdbestimmt, fanatisch, führerscheinlos? – Nö! Alles voll daneben! Der Islam ist höchstens eine Brille, durch die ich die Welt betrachte, und der Weg, den ich beschreite. `Scharia´, nach `Allahu Akbar´ wohl gegenwärtig das Wort mit dem höchsten blutdrucksteigernden Potenzial. Wissen Sie eigentlich, was es heißt?

Es bedeutet `Weg zur Quelle´! Ich denke, man muss kein Mystiker sein, um zu kapieren, was eine Wasserquelle in der Wüste symbolisiert: das Leben. Ohne Wasser kein Leben! Spirituell oder physisch. Schon Jesus wusste: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein!“ (S. 70)

Anja Hilscher, Jahrgang 1969, ist bereits über die Hälfte ihres Lebens Muslimin, absolvierte eine Ausbildung zur „Beraterin für interkulturelle Fragen“ und arbeitet als Leiterin von Integrationskursen in Norddeutschland. Sie ist eine der elf Autorinnen, die im Buch „Mehr Kopf als Tuch. Muslimische Frauen am Wort“ über verschiedene Themen schreiben, die sie beschäftigen: über Heimat und Karriere, über Alltagsrassismus und Diskriminierungserfahrungen bis hin zu Vielfalt und Integration.

Die Sammlung von gesellschaftskritischen Analysen und persönlichen Geschichten gewährt einen Einblick in die Lebenswelten gesellschaftlich engagierter Musliminnen und gibt auch die kritischen weiblichen Töne der muslimischen Community wieder, die nicht so oft gehört werden. So macht dieses Buch die Vielfalt der muslimischen Frauen sichtbar, die wiederum ein Stück weit zum Dialog und zur Versachlichung beitragen in einem emotionsgeladenen Diskurs um das Thema Islam.

Kopftuch – eine wichtige Nebensache, oder?

Das Buch möchte mit dem einseitigen Bild der abhängigen muslimischen Frau aufräumen. Das Kopftuch spielt in den zum Teil sehr persönlichen Geschichten oft nur eine Nebenrolle. Ganz den Querschnitt der muslimischen Frauen im deutschsprachigen Raum stellen sie wohl nicht dar, denn sie sind alle Akademikerinnen, viele sind in sozialen Berufen tätig, etwa als Psychologinnen, Soziologinnen oder Pädagoginnen. Manche engagieren sich neben dem Job ehrenamtlich, einige der Frauen sind berufstätige Mütter. Mit Kopftuch und ohne. Sie leben in Städten wie Wien, Graz, Berlin und haben Wurzeln in Europa, Nordafrika und im Nahen Osten. Es sind sehr unterschiedliche Frauen, die in dem Buch „Mehr Kopf als Tuch“ Texte verfasst haben. Doch was alle elf Frauen gemeinsam haben, sind ihr Glaube und die Erfahrungen, die sie deswegen in ihrem Alltag machen.

Für mich schafft das Buch durch die Einbeziehung von deutschen Musliminnen ein vielfältigeres, – ja fast möchte ich sagen – entspannteres Bild davon, wie Musliminnen leben können/mögen/sollen. Es öffnet die kleinkarierten diesbezüglichen Debatten in Österreich, die eben oft nur einen bestimmten Blick zulassen, der dann in den wenigen Medien „bis zum Erbrechen“ wiederholt wird und sich im Kreis dreht und immer beim Kopftuch endet und zuletzt zu einem seltsam anmutenden, eindeutig diskriminierenden Gesetz geführt hat. Eben diese fatale und perfide Kopftuchpolitik der österreichischen Bundesregierung besteht darauf, muslimische Frauen als DIE ANDEREN zu definieren und nicht als gleichberechtigten Teil von UNS. Religiöse und nicht praktizierende MuslimInnen sind ein wichtiger Teil unserer gemeinsamen österreichischen Gesellschaft. Nur auf Basis dieses klaren Bekenntnisses kann eine kritische Diskussion über Religion und religiöse Auswüchse geführt werden, die nicht entlang des Kriteriums Religionszugehörigkeit spaltet.

Darum empfehle ich dieses Buch zu lesen, den Voreingenommenen und den Neugierigen, den Skeptischen und den Kopftuchablehnenden. Sie werden dazulernen, was es heißt, aus Glaubensgründen so oder so zu leben, was es heißt, Verwandtschaft im Nahen Osten zu haben, was es heißt, als berufstätige Frau auf ein Stück Stoff reduziert und nicht nach der Qualifikation beurteilt zu werden. Und sie werden staunen, dass am Ende des Buches einige Vorurteile über den Haufen geworfen worden sind. Persönlich kenne ich zwei der österreichischen Autorinnen aus Erwachsenenbildungszusammenhängen und ich verfolge ihre Facebook-Eintragungen, die ich immer wieder einmal teile, weil sie, so wie im Buch, differenzierte Analysen abgeben, aber immer wieder einmal auch persönliche Sichtweisen, oft auch Betroffenheit zum Ausdruck bringen.

Humorvolles Aufbrechen von Vorurteilen

Ich bin den elf Autorinnen dankbar für die oft sehr persönlichen Einblicke in ihr Leben. Ich weiß, frau macht sich dadurch auch angreifbar. Und ich bin dankbar für die gesellschaftlichen Analysen, denn diese fordern uns alle heraus, unseren Kopf freizukriegen von Vorurteilen, ohne weiterführende Debatten zu scheuen. Denn gemeinsam muss diskutiert werden über Rassismus und Diskriminierung, über Islamfeindlichkeit in den Medien, über Alltagsrassismus und seine Auswirkungen im Bereich von Schule, Ausbildung und Berufsleben. Das Thema Geschlechtergerechtigkeit haben bisher weder säkulare und schon gar nicht religiöse Organisationen und Individuen zufriedenstellend gelöst.

Gute Ansätze zur Verbesserung dürfen ruhig geteilt und verbreitet werden. Ansätze dazu lassen sich auch in diesem Buch finden und, was ich sehr schätze, ist das humorvolle Aufbrechen vermeintlicher typisch muslimischer Verhaltensweisen, wie es vor allem der Bloggerin Nadia Shehadeh in „Wie heißt Ihr Großvater“ köstlich gelungen ist. Sie schildert Familientreffen in schillerndsten Farben und lässt ein Schmunzeln über eine Touristin im Flugzeug aufkommen. Aber schließlich macht sich für mich als Leserin Ernüchterung breit, wenn es heißt: „Religion ist kein großes Gesprächsthema, Frömmigkeit sehr präsent. Ich laufe durchs Dorf, mit Band-Shirts und offenen Haaren, ohne Hijab, ich rauche, ich bin unverheiratet, und es stört niemanden, und keiner will mich belehren. Ich gehöre zu einer Familie, und das ist das Einzige, was hier zählt, und es graut mir davor, ins Deutschland der Kopftuchdebatten zurückzufahren.“ (S. 119f)

Das ewige Dilemma: feministisch und religiös

Das Abarbeiten an Alice Schwarzer, wie es Anja Hilscher in ihrem Beitrag „Zurück in die Zukunft: emanzipierte Öko-Punk-Musliminnen“ tut, finde ich lohnend und mühsam zu gleich. Es zeigt auf, dass Alice Schwarzer in ihrer Inanspruchnahme von Definitionshoheit über Kopftuchträgerinnen eklatant diskriminierend ist, indem sie keine Bedeutungsänderung von Symbolen, wie es etwas das Kopftuch ist, zulässt. Anja Hilscher, die gewissermaßen mit EMMA groß geworden ist, definiert Emanzipation so: Es bedeutet „herauszufinden, was man wirklich will, und dies dann auch umzusetzen. Egal, was der Imam sagt oder welchen Kurs Alice Schwarzer gerade fährt. … Bis heute ist es ein schwieriges Unterfangen, westlichen Feministinnen klarzumachen, dass man nicht unbedingt eine multiple Persönlichkeitsstörung haben muss, um zugleich emanzipiert und muslimisch sein zu wollen.“ (S. 73)

Das hat man doch auch uns feministische Theologinnen spüren lassen: „Wie kannst du Feministin sein und noch immer der katholischen Kirche angehören?“ war eine sehr häufig gestellte Anfrage. Nach wie vor scheint es für viele ein unlösbares Dilemma zu sein, religiös und feministisch leben zu wollen. Egal ob als Muslimin, Jüdin oder Christin. Das Ringen um gutes Leben im religiösen Sinn bringen auch einige Autorinnen zum Ausdruck. Kein religiöses Bekenntnis löst alle Lebensfragen auf immer und ewig. Und dennoch ist in der Einleitung ein mutmachender Wunsch zum Ausdruck gebracht: „Die Abbildung der Lebenswelten muslimischer Frauen wird aber hoffentlich auch andere Menschen dazu inspirieren sich zu emanzipieren, um damit einen Beitrag zu einer gerechteren und sozialeren Welt zu leisten.“ (S. 16)

Es sind viele Frauen, die in dem Buch zu Wort kommen: Amani Abuzahra (Philosophin und Hochschulprofessorin), Leyla Derman (Controllerin), Kübra Gümüsay (Journalistin), Soufeina Hamed (Psychologin), Anja Hilscher (Pädagogin), Dudu Kücückgöl (Unternehmensberaterin), Haliemah Mocevic (Klinische- und Gesundheitspsychologin), Kevser Muratovic (Pädadogin und Islamwissenschaftlerin), Maisa Pargan (Dolmetscherin), Nadia Shehadeh (Soziologin und Bloggerin), Betül Ulusoy (Juristin und Moscheeführerin).

Fast alle Texte machen neugierig darauf, mehr über die Lebensumstände dieser Frauen zu erfahren, denn endlich schreiben muslimische Frauen selbst und es wird nicht schon wieder ÜBER Musliminnen geschrieben. Das Buch macht Lust auf mehr solch entkrampfter Lektüre.

Mehr Kopf als Tuch.
Muslimische Frauen am Wort.
Amani Abuzahra (Hg.)
Tyrolia, Innsbruck 2017
144 Seiten, 14,95 Euro

 

Autorin

G. Kienesberger

Gabriele Kienesberger
Diözesansekretärin der Kath. ArbeitnehmerInnen Bewegung Wien; Co-Präsidentin des Ökumenischen Forums christlicher Frauen in Europa; Mitglied des Österreichischen Frauenforums feministische Theologie