Die Zukunft gibt es nicht. – Aber was sollen wir dann gestalten?

60 Jahre KSÖ - Photo by Jacqueline Godany

Dass es die Zukunft nicht geben solle, mag Ihnen, die Sie sich vorgenommen haben, sie demokratisch, solidarisch und gerecht zu gestalten, als eine abwegige, geradezu verrückte oder unverantwortliche oder katastrophale Behauptung erscheinen.

Sie mag die hedonistische Selbstbeschwichtigung der fidelen Tänzer auf dem Vulkan sein, die sich nach der Melodie: „Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot“, verlustieren. Sie mag die sorgenumwölkte Feststellung derjenigen sein, die den Kampf um die Zukunft angesichts der finsteren Zeiten, in denen wir leben, schon aufgegeben haben, ehe sie ihn ernstlich begonnen hatten. Oder sie mag das Bekenntnis der Realitätsblinden sein, die den Kopf in den Sand stecken, um nicht sehen zu müssen, was sie nicht wahrhaben wollen. Aber der Autor dieser Feststellung, dass es die Zukunft nicht gebe, ist weder blind, noch verrückt, noch entschlossen, sich um jeden Preis zu amüsieren. Er hat lange nachgedacht, ehe er sich traute, der Zukunft ihre Existenz abzusprechen, und er bringt gute und sehr einleuchtende Gründe für diese Behauptung vor, und zwar schon vor ungefähr 1600 Jahren. Ich spreche vom Kirchenvater Augustin, der im berühmten 11. Kapitel seiner ‚Bekenntnisse’ über das Wesen der Zeit grübelt und dabei eben zu der Einsicht gelangt, dass man von der Zeit – ganz allgemein – nicht sagen könne, sie „sei“. Weder könne man dies von der Vergangenheit sagen, denn sie ist nicht mehr, noch von der Zukunft, denn sie „ist“ noch nicht. Und die Gegenwart, so räsoniert er weiter, sei immer nur der Umschlagpunkt von eben noch Zukünftigem in gerade schon wieder Vergangenes, sie habe also, genau genommen keine zeitliche Ausdehnung. Aber dann misst Augustin der Gegenwart doch eine besondere Bedeutung zu: Statt von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu sprechen, müsse man von einer Gegenwart des Vergangenen, einer Gegenwart des Gegenwärtigen und einer Gegenwart des Künftigen ausgehen. Sie hören schon, hier ist von einer ganz anderen Gegenwart die Rede, von der Gegenwart, die sich als Anwesenheit manifestiert, nicht vom Präsens sondern von der Präsenz spricht Augustin jetzt: Ich zitiere: „Denn es sind diese Zeiten als eine Art Dreiheit in der Seele und anderswo sehe ich sie nicht.“ Und zwar sei da Gegenwart von Vergangenem, nämlich Erinnerung; Gegenwart von Gegenwärtigem, nämlich Anschauung; und Gegenwart von Zukünftigem, nämlich Erwartung; die Erwartung dessen, was, wie wir entweder hoffen oder befürchten, auf uns zukommt. Denn das ist ja die wörtliche Bedeutung von Zu-kunft, dass sie das, was kommt, bezeichnet, und zwar immer anders, als man denkt. Dass wir die Zukunft als zu machende auffassen, und sei es auch zu gestaltende, ist eine folgenschwere Verkehrung des Wortsinns. Diese Umdeutung hat einen wirklichen Epochenwechsel eingeleitet und der Moderne ihr Gepräge und ihre Spielregeln gegeben. Die Vorstellung, dass wir Herrschaft über die Zeit in ihrer dreierlei Art gewinnen könnten, dass wir die Zeit also haben, bewirtschaften, gestalten sparen, gewinnen, ausnutzen, aber dann auch wieder verschwenden, vertrödeln, verplempern, vertreiben oder sogar totschlagen könnten, ist vielleicht die Triebkraft der Moderne und zugleich das Dogma, das uns in das Verhängnis gestürzt hat, in dem wir heute festsitzen. Diese Vorstellung hat uns dazu verführt, unser Heil in der Flucht nach vorn, zukunftswärts, zu suchen. Das nennen wir den Fortschritt, und ihm widmen wir unsere besten Kräfte. Ich komme nicht umhin, die Geschichte dieser Idee, dass wir die Zukunft zu machen und also auch zu verantworten hätten, in aller Kürze nachzuzeichnen.

Der österreichische Kulturhistoriker Egon Friedell wagt es, den Beginn der Moderne aufs Jahr genau zu datieren und mit einem Ereignis, das das Lebensgefühl der Menschen zutiefst erschütterte und alle geltenden Gewissheiten und Gewohnheiten außer Kraft setzte, in Verbindung zu bringen. Von 1347 -1354 wütete in ganz Europa die schwarze Pest, die mindestens ein Drittel, wahrscheinlich die Hälfte der damals in Europa lebenden Menschen innerhalb von wenigen Jahren unter grauenhaften Bedingungen dahinraffte. Angesichts dieses Grauens änderte der Tod sein Gesicht. Er wurde nicht mehr als ein Geschick aus Gottes Hand gedeutet, (Gott nicht in die Schuhe schieben) nicht mehr als ein heilsgeschichtliches Ereignis erfahren, nicht mehr als ein Übergang in ein besseres Dermaleinst, sondern als ein endgültiges Ende. Der Tod erschien als der ärgste, der furchteinflößende Widersacher des Menschen. Der große italienische Dichter Francesco Petrarca traute sich sogar, ihn zum Skandal zu erklären, der die Würde des Menschen verletzt und der deshalb unschädlich gemacht werden muß.

Aber mit dem Schütter-Werden der Ewigkeitshoffnung veränderte sich auch die Vorstellung von dem, was das Leben sei, dramatisch. Das Leben wurde zur Frist; eingezwängt zwischen Geburt und Tod zur chronisch zu kurzen Frist. Es wurde buchstäblich zur einzigen und letzten Gelegenheit. Beinah noch ärger als die Todesfurcht fiel die Menschen die Angst an, in ihrem bisschen Leben, das Meiste, das Beste, das Wichtigste zu versäumen. Sie gerieten in ein quälendes Missverhältnis zwischen dem Überangebot an Welt und ihrer viel zu knappen Lebensdauer. So begann ein Wettlauf mit der Zeit. Auf zwei Weisen glaubte man in der Geschichte des Abendlandes, dem Tod Lebenszeit abringen zu können: durch beharrliche Sicherheitsanstrengungen und durch infinite Beschleunigung. Diese Rezeptur hat sich bis heute nicht verändert.

Die alte Weisheit, dass der Mensch denkt und Gott lenkt, verlor ihre Gültigkeit. Der Mensch wollte Denker und Lenker in eins sein und sein Schicksal in die eigene Hand nehmen. Es sollte kommen, wie er dachte, weil er zu können glaubte, was er wollte.
Die Beherrschung der Zukunft wird allerdings erst 300 Jahre nach der einschneidenden Pesterfahrung programmatisch. Es war René Descartes, der Philosoph der Moderne, der seinen Zeitgenossen und Nachfahren dies zur Aufgabe machte: Das Hauptübel, an dem die Menschen krankten, sei die lähmende Furcht, die alle Tatkraft zum Erliegen kommen lässt. „Und da der Hauptgrund der Furcht in der Überraschung besteht, gibt es nichts Besseres, daran vorbeizukommen, als von Vorüberlegungen Gebrauch zu machen“ und auf alle Eventualitäten des Lebens durch kluge Vorraussicht und vorsorgendes Handeln vorbereitet zu sein. Und da man nur das wirklich durchschaut, was man selbst gemacht hat, verpflichtet er sich selbst und seine Zeitgenossen dazu, eine überraschungsfreie zweite Natur zu schaffen, die der ersten Natur überlegen sein sollte und in letzter Instanz das größte Übel, nämlich den Tod, nebst Krankheit und Alter beseitigen sollte. Descartes selbst ging so weit, seinen Freund Mersenne, der auf den Tod erkrankt war, zu beschwören, er möge so lange durchhalten, bis er, Descartes, eine auf wissenschaftlichen Erkenntnissen gegründete Medizin entwickelt habe, die, wie er glaubte, noch zu seinen Lebzeiten eine auf 400 Jahre verlängerte Lebensspanne bescheren könnte. Der Preis, der dafür zu entrichten war, war eine radikal andere Auffassung vom Menschsein des Menschen, den er sich wie einen mehr oder weniger gut gewarteten Uhrmechanismus dachte, der bei guter Wartung durch einen kundigen Uhrmacher beliebig lange am Laufen gehalten werden könne. Der Tod war in dieser Auffassung nichts anderes als ein Maschinendefekt, der sich mit Hilfe von exakter Wissenschaft und raffinierter Technik sehr wohl verhindern lässt. Kommt uns das alles nicht sehr bekannt vor? Wir sind Descartes gläubige Anhänger.

Damit haben wir ein ganzes Ensemble von Motiven beisammen, die uns von einer zu gestaltenden Zukunft träumen lassen. Der Kampf gegen die conditio humana, gegen die Begrenzungen, die uns durch unser Menschsein auferlegt sind, ist eröffnet. „Die traditionelle Haltung gegenüber der conditio humana ging davon aus“, schreibt der große Kulturkritiker der Moderne, Ivan Illich, „dass manche Dinge notwendig und unabänderlich sind, so dass sie hingenommen werden müssen.“ Auf so engem Terrain lassen sich moderne Menschen nicht einhegen. Sie kapitulieren nicht vor dem Unabänderlichen, sondern erklären es zum ‚Problem’, das nach einer – vorzugsweise technischen oder institutionellen – Beseitigung verlangt. Aber warum sollten Menschen sich denn auch harten Notwendigkeiten beugen, wenn sie in der Lage sind, sie aus der Welt zu schaffen? Weil sie sie, so wie das heute geschieht, nicht aus der Welt schaffen, sondern vermehren. Die Freiheiten, die sie gewinnen, wenn sie sich über die ihnen gesetzten Grenzen hinwegsetzen, werden teuer erkauft mit einem Verlust an Freiheit, an Souveränität, an Fähigkeiten und Möglichkeiten und mit einer historisch beispiellosen Unsicherheit.

Die Zukunft soll nicht länger, unserem Zugriff entzogen, da vorn vor uns liegen im diffusen Dämmerlicht des Morgen. Sie wird buchstäblich hereingezerrt in unsere Gegenwart. ‚Morgen’ soll schon heute sein. Und gleichzeitig, welch ein Widersinn, drücken wir uns vor der Gegenwart und vertagen wir das, was heute ansteht, auf die Zukunft, bürden es den Nachkommen auf. Aber wir leben in „Absurdistan“, und da sind solche Ungereimtheiten an der Tagesordnung.

Vielleicht sind Sie bei dem Umweg, den ich Ihnen im Schnellschritt zugemutet habe, ungeduldig geworden und fragen sich und mich, was das alles mit Ihrem Thema zu tun hat. Denn Sie haben ja eine ganz andere Zukunft im Blick, eine solidarische, gerechte und demokratische. Ich muss ihnen sagen, dass ich immer, wenn sich die Suche nach einem Ausweg aus unserer vollkommen verfahrenen Lage auf die Zukunft richtet, in Irritation gerate. Die erste Frage, die ich an Ihr Thema habe, ist: Wer soll das machen? An welche Akteure denken Sie, wenn es darum geht die Zukunft zu gestalten? Normalerweise wird an die Stelle, wo das handelnde Subjekt benannt werden müsste, ein bedeutungsarmes, unbestimmtes „Wir“ gesetzt, das sich einen Selbstbefehl erteilt:
„Wir müssen die Zukunft gestalten.“ Lassen wir einstweilen einmal die edlen Attribute „demokratisch, solidarisch und gerecht, gegen die ja niemand etwas haben kann, beiseite. Und fragen der Reihe nach: Wer ist wir? Was heißt Gestaltung? Und „Welche Zukunft ist gemeint, die des Augustin oder die des Descartes? Die kommende oder die gemachte?

Wer ist „Wir“? das ist, wenn es um die Zukunft geht, in erster Linie eine Generationenfrage. Meinen wir die Generation, die überwiegend hier repräsentiert ist, nennen wir sie einmal die amtierende Generation? Oder meinen wir die Generation, deren Gegenwart, deren ‚Amtszeit’, die Zukunft sein wird? Die beiden Generationen ziehen nicht an einem Strang. Das haben sie nie getan, immer war die Ablösung der einen durch die andere ein schmerzlicher und konfliktreicher Vorgang. Aber nie zuvor in der Geschichte hat sich die amtierende Generation so unbedenklich und ohne alle Rücksicht an dem, was der nachfolgenden zusteht, bereichert wie heute. Wir haben die Spielräume der kommenden Generation für die ihr eigene Weltgestaltung fast vollständig aufgebraucht. Mit unserer, der Älteren, Vorstellung, dass es uns obliege, Zukunft zu gestalten, haben wir in deren Terrain gewildert und haben ihnen Steine in den Weg gelegt, versteinerte Sachzwänge, die längst darüber entscheiden, was noch möglich ist.

„Ein Kind auf den Straßen von New York“, schreibt Ivan Illich, „berührt niemals etwas, was nicht wissenschaftlich entwickelt, fabriziert, geplant und irgendjemandem verkauft worden ist. Sogar die Bäume sind dort, weil die Gartenbaubehörde beschlossen hat, sie dorthin zu setzen. Die Witze, die das Kind im Fernsehen hört, sind kostspielig produziert worden. … Sogar Wünsche und Ängste werden institutionell gestaltet. Macht und Gewalt werden organisiert und gelenkt … Selbst das Lernen wird als Konsum von Themen definiert, (Themen,) die (ihrerseits) das Ergebnis eines auf Forschung und Planung beruhenden Programms sind. … Die poetische Überraschung des Ungeplanten kann ihm nur bei der Begegnung mit ‚Dreck’, bei Fehlschlägen oder Versagen zuteil werden: die Orangenschale in der Gosse, die Pfütze auf der Straße, das Versagen von Ordnung, Programm oder Maschine sind die einzigen Ansatzpunkte für seine schöpferische Phantasie.“1

So sieht die Welt der Kinder aus, deren Zukunft bereits gestaltet worden ist. Sie leben in einem technogenen Milieu, in dem sie kaum noch japsen können. Ich zweifle sehr daran, dass wir ihnen Atemluft verschaffen, wenn wir uns vornehmen, das, was wir jahrhundertelang gemacht haben, besser zu machen, nämlich solidarisch gerecht und demokratisch. Das Besser-Machen ist immer nur eine Variante dessen, was sowieso im Gange ist. Es ginge aber darum, es nicht besser, sondern ganz anders zu machen. Und das finge wohl damit an, dass wir aufhörten, nämlich damit aufhörten, die Zukunft gestalten zu wollen. Wir hätten uns der – für unsere Art zu denken – deprimierenden Einsicht zu stellen, dass uns die Zukunft nichts angeht. Die einzig mögliche Haltung ihr gegenüber wäre die, uns überraschen zu lassen, uns in der Kunst des Unterlassens zu üben, was ungefähr dasselbe ist, wie hoffen zu lernen. Darauf liegt eine große Verheißung. Wenn wir die Zukunft planen und unseren Absichten gefügig machen wollen, dann schränken wir den Horizont des Möglichen ungemein ein, denn dann lassen wir nur zu, was unseren Plänen entspricht und alles andere, alles was unsere Vorstellungskraft und unsere Absichten übersteigt, wird radikal ausgeschlossen, während wir im Saft unserer bornierten Zukunftsvorstellungen schmoren, die heute erkennbar darauf hinauslaufen uns selbst zu ersetzen und uns auch noch einreden zu lassen, das sei unsere höchste Bestimmung.

Ich bin sehr beeindruckt – und hoffe dass sie es durchstehen können – von den Freitagsprotesten der jungen Leute. Nicht so sehr, weil sie eine andere Klimapolitik fordern – das tun alle, die Wirtschaftsbosse und Supperreichen, die an der jetzigen verdienen, eingeschlossen. Neu ist, dass sie die Schule bestreiken und damit zum Ausdruck bringen, dass sie heiligste aller Kühe schlachten wollen und der heiliggesprochenen Schulbildung, jeden bildenden Wert für die wichtigen Fragen unserer Daseins absprechen. Darin, dass sie das Schulwesen als Büttel der herrschenden Verhältnisse durchschaut haben, sind sie der amtierenden Generation inklusive deren kritischer Fraktion, weit voraus. Sie lehnen es offenbar ab, sich von denen, die sie als eine „Investition in die Zukunft“ verplant haben, diktieren zu lassen, welche Anpassung sie zu leisten haben. Sie wehren sich nicht gegen die Institution aller Institutionen. Sie bleiben ihr fern. Und wir stehen blamiert da mit unserer Zukunftsplanung, die sich heute wesentlich in einem Geschacher und Gefeilsche um die sogenannten Grenzwerte erschöpft. Grenzwerte haben sich der Politik bemächtigt. Politik ist längst nicht mehr an der Frage orientiert, was ein gutes Leben sein könnte, sondern daran, was gerade eben noch geht, ohne den Zusammenbruch des Ganzen akut werden zu lassen, ihn wenigsten noch eine Weile zu vertagen. Der Stoßseufzer: „Ich bin froh, dass ich das nicht mehr werde erleben müssen“, grassiert, verbunden mit der zynischen Mitleidsbekundung an die Jüngeren, die kaum Hoffnung haben können, verschont zu bleiben von den Folgen der Lebensgier der Älteren. Hier zeigt sich die Versäumnisangst, die wir aus den Tagen der Schwarzen Pest geerbt haben, von ihrer dunkelsten Seite: Wir verpulvern die Zukunft derer, die nach uns kommen, dann müssen wir sie nicht darum beneiden, dass sie qua Geburtsdatum Anteil an einer Zeitspanne haben, die ‚wir’ nicht mehr erleben werden. Wir wähnen uns auf dem Zenit der Geschichte. Und stellen mit klammheimlicher Genugtuung fest, dass wir nach unserem Ableben nichts versäumen. Und gleichzeitig wird von den einschlägigen Experten fieberhaft daran gearbeitet, unsere Lebensspanne kontinuierlich zu verlängern, für den Fall, dass es doch noch eine Weile gut geht. Kein Wunder, dass die junge Schwedin Greta Thunberg den Repräsentanten der amtierenden Generation in Davos die Panik an den Hals gewünscht hat. Eine todverleugnende Gesellschaft, in der das bloße Leben zum Fetisch geworden ist, ist gnadenlos in ihrem Selbstbehauptungsdrang und sie ist zwingend auf das fortgesetzte Wachstum angewiesen, das zugleich, wie wir alle sehr wohl wissen, ruinös ist für den Fortbestand unserer Lebenswelt.

Wie wäre es, wenn wir die Zukunft einfach in Ruhe ließen und unsere ganze Anwesenheit im Sinne Augustins der Gegenwart gewährten; jenem möglichkeitsträchtigen ‚Augenblick’, der Vergangenheit und Zukunft verbindet. Oder anders gesagt. Was wäre, wenn wir uns die Verwendung der Welt für unsere Pläne aus dem Kopf schlügen und uns stattessen in der Hinwendung zur Welt übten? Und was wäre wenn wir uns von denen, die nach uns kommen überraschen ließen, statt etwas mit ihnen vorzuhaben.
Lassen sie mich, was ich meine, an einer Gedichtstrophe von Jewgenij Jewtuschenko verdeutlichen. Das Gedicht trägt die Überschrift „Uninteressante Menschen gibt es nicht.“
„Es gibt keine uninteressanten Menschen auf der Welt
Ihre Schicksale sind wie die Geschichten der Planeten:
Ein jeder ist unwiederholbar,
und es gibt keine Planeten, die ihm ähnlich sind.

Und wenn jemand unbemerkt gelebt hat,
Und mit dieser Unbemerkbarkeit befreundet war,
Dann war an ihm unter den Menschen
Gerade seine Unbemerkbarkeit interessant.“ … 2

Wenn wir in unseren Schulen uns an diese Gedichtzeilen hielten, dann wäre die Ungeheuerlichkeit, dass wir die nachfolgende Generation als Investition in die Zukunft in Rechnung stellen, undenkbar. Das Vertrauen darauf, dass in jedem, wirklich in jedem Menschen Möglichkeiten schlummern, die wirklich werden wollen, ist etwas unvergleichlich anderes als das Projekt, das ich mit ihm vorhabe, wenn ich ihn für eine zu gestaltende Zukunft zurichte. Statt im jeweiligen Anderen ein verbesserungsbedürftiges Mängelwesen zu sehen, wäre ich leidenschaftlich neugierig auf das, was sich als sein ureigenstes Sein-Können in ihm regt. Welch ein ungemeiner Reichtum an Möglichkeiten im Vergleich zu der Ödnis, die die Schule mit ihren Lehrplänen, Zensuren und Standards, an denen sich alle in beinharter Konkurrenz bewähren müssen, produziert. Wir wissen nicht, wovon das Kind in New York hätte träumen können, welches Blaue es sich vom Himmel heruntergewünscht hätte, welche Möglichkeiten, Talente, Fähigkeiten, Begabungen in ihm erblüht wären, wenn es in einer weniger gestalteten, veranstalteten und verunstalteten Welt hätte aufwachsen können. Wir wissen es auch nicht von denen, die wir beschulen, denn wir fragen nicht danach. Sie werden lediglich auf ihre mehr oder große Eignung für das Projekt Zukunft durchgemustert. Und da bleiben unendlich viele Möglichkeiten und unendlich viele junge Menschen auf der Strecke.

Lassen Sie mich Ihnen zum Schluss ein Beispiel erzählen, welche Spuren die Hinwendung zum Anderen, sei es Mensch, Tier, Pflanze, Quelle oder Stein in uns hinterlassen kann, wenn wir dem Augenblick das Seine geben.
Kürzlich bin ich einer Hummel begegnet. Sie hatte sich in unserer Küche verirrt und lag völlig entkräftet, im Begriff zu verenden, auf der Fensterbank. Mit einem Tropfen Honig, einem Zahnstocher und viel Geduld habe ich sie wieder aufgepäppelt. Fasziniert konnte ich zusehen, wie sie erst die Hinterbeine ansetzte, sich dann vorn ein wenig aufrichtete, den Rüssel in den Honig senkte und ihn einsaugte. Als sie satt und wieder bei Kräften war, breitete sie die Flügel aus und flog in hohem Bogen aus dem Fenster. Diese Hummel war mir durch den Akt der Fürsorge ans Herz gewachsen. Sie hat es fertiggebracht, sie mich angehen zu lassen. Sie hat mich über das Insektensterben mehr gelehrt als Alle Statistiken der Welt. Zahlen kann man eben nicht lieben.

1 Ivan Illich: Entschulung der Gesellschaft. Eine Streitschrift, 4. Auflage, München 1995, S. 147 f.

2 Zit. nach Ivan Illich: Die Wiedergeburt des epimetheischen Menschen, in: ders. Entschulung der Gesellschaft, 4. erweiterte Auflage, München 1995, S. 157.

Fest-Vortrag anlässlich „60 Jahre ksoe“, 29.3.2019, Kardinal König Haus, Wien

Autorin

Marianne Gronemeyer
dt. Wissenschaftlerin und Publizistin, gilt als eine Vordenkerin der wachstumskritischen Debatte. In ihren Werken regt sie u.a. dazu an, sich der Konsumgesellschaft zu entziehen und sich dem nicht zukunftsfähigen Wachstumsmodell zu widersetzen.