Zu einer regionalen Menschenrechtspraxis in Österreich

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„Hier bei uns? Kein Thema!“

Menschenrechtsverletzungen hier bei uns sind sehr wohl ein Thema: In den letzten Jahren hat sich in Österreich die Situation gerade von verletzlichen Bevölkerungsgruppen stark verschlechtert. Insbesondere Geflüchtete sind – nicht zuletzt dank der entsprechenden politischen und medialen Diskurse – zur Zielscheibe von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Diskriminierungen geworden.

Die Betroffenen selbst reflektieren diese Verschlechterung der Einstellungen in der Bevölkerungsmehrheit ihnen gegenüber sehr genau: „Wir kommen wegen der Gleichberechtigung nach Österreich, aber wir sind nicht gleichberechtigt!“ – „Menschen haben Angst vor uns, wir sind für sie eine Bedrohung.“ – „Ich bin Asylwerber, aber keine Angst: Ich beiße nicht und im Moment habe ich keine Bombe bei mir!“ So die Aussagen von Geflüchteten beim Salzburger Flüchtlingsforum 2018. Gleichzeitig hat sich jedoch, weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit, in den letzten Jahrzehnten in österreichischen Städten und Gemeinden ein vielfältiges Netz von Menschen, Gruppen und Organisationen gebildet, die sich vor Ort – also in ihrem Heimatort, in ihrem Stadtteil, in ihrem sozialen Umfeld – für die Menschenrechte von bes. verletzlichen Gruppen engagieren.

Was heißt „Menschenrechte“?

Eine scheinbar banale Frage, die jedoch in der Praxis oft schwierig zu beantworten ist, sobald scheinbar einander ausschließende menschenrechtliche Ansprüche auftauchen. Ein Beispiel dafür: Was bedeutet es für die über Jahre gewachsene Kooperation mit muslimischen Gemeinden und Vereinen, wenn Geflüchtete, die zwar aus muslimischen Staaten kommen, sich aber als nicht religiös verstehen, von Angehörigen der muslimischen Community einer Stadt in sozialen Medien wegen ihrer säkularen Lebensweise gemobbt werden? Noch häufiger sind Menschenrechtsaktivist*innen in ihrem Umfeld mit Diskursen konfrontiert, in denen die Menschenrechte nicht als absolut und unteilbar gelten, sondern gegeneinander verrechnet werden: „Keine Moschee in unserer Gemeinde, solange es in Saudi-Arabien keine Kirchen geben darf!“ – „Kümmert Euch gefälligst um die Menschenrechte für unsre Leute, nicht immer nur um die Flüchtlinge!“ Darüber hinaus ist die regionale Menschenrechtspraxis nicht allein an gesetzlich definierten Grundrechten orientiert, sondern stellt sich dem Anspruch, den der normative Rahmen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte oder andere, die Erklärung konkretisierende Deklarationen wie etwa die Europäische Charta für den Schutz der Menschenrechte in der Stadt formulieren. Die Europäische Charta z.B. definiert den Schutz für die verletzlichsten Bevölkerungsgruppen in der Stadt als Formalbestimmung, die alle anderen Selbstverpflichtungen der Charta nochmals konkretisiert. Wie verhält sich z.B. die Regierung einer Menschenrechtsstadt gegenüber Notreisenden aus Südosteuropa, die in der Stadt betteln und gegen die von den klassischen wie den sozialen Medien und der „öffentlichen Meinung“ mobil gemacht wird?

Was bedeutet „regional“?

Das Eigenschaftswort „regional“ meint, dass diese Form der Menschenrechtspraxis sich „von unten“, in einem sozial oder geographisch begrenzten Gebiet entwickelt. Sie bleibt auf ein bestimmtes Bundesland, eine Stadt, eine Gemeinde oder sogar auf einen Stadt- bzw. Ortsteil begrenzt. Drei Merkmale lassen sich ihr durchgängig zuschreiben: Diese Menschenrechtspraxis ist lebens- und sozialraumorientiert, und sie entsteht aus direkten Erfahrungen von unten. Ein Engagement für Menschenrechte in Kommunen und Regionen entwickelt einen scharfen Blick für Benachteiligungen und Zugangshürden zu Grundrechten, die v.a. ausgrenzungsgefährdete Menschen in ihrem Umfeld betreffen. Ein umfassender Bericht zur Menschenrechtssituation in Salzburg für das Jahr 2018 nennt dazu etwa folgende Gruppen:

  • Notreisende, die sich in einer prekären sozialen Situation ohne Ressourcen und Zugänge zu Basisversorgung und für ein menschenwürdiges Leben in der Stadt aufhalten;
  • Sex-DienstleisterInnen, deren Abhängigkeitsverhältnisse, rechtlich prekäre Situation und Diskriminierung durch Ämter und Behörden vom „öffentlichen Schweigen“ über eine stigmatisierte Gruppe überdeckt werden;
  • Geflüchtete, die aufgrund ihrer ungesicherten aufenthaltsrechtlichen Situation sowie ihrer prekären Lebenslagen ein erhöhtes Risiko für institutionelle, strukturelle und individuelle Diskriminierungen aufweisen
  • MuslimInnen, die zunehmend der Gefahr der Ausgrenzung und Diskriminierung in einem islamophoben Klima ausgesetzt sind;
  • „People of Colour“, d.h. Menschen anderer Hautfarbe, oft aus afrikanischen Ländern stammend, die in unserer Gesellschaft oft eine vielfältige Diskriminierung (religiöse Zugehörigkeit, Hautfarbe, Geschlecht) erfahren;
  • armutsbetroffene Anspruchsgruppen von Bedarfsorientierter Mindestsicherung und anderen Leistungen für ein menschenwürdiges Leben, die jedoch keinen gleichwertigen bzw. gar keinen Zugang zu diesen notwendigen Leistungen haben.

Warum ein Schwerpunkt auf „verletzliche Menschen(gruppen)“?

Weil es sich hier um jene Menschen handelt, für die das Versprechen der Menschenrechte auf Freiheit und Gleichheit am wenigsten eingelöst ist. Menschenrechte gelten nicht nur für diejenigen in einem sozialen oder geographischen Lebensraum, die die Macht haben, sie für sich selbst erfolgreich einzufordern. Eine Handlungsmacht, die etwa illegalisierten Geflüchteten, Sexarbeiter*innen aus Rumänien oder Frauen aus Somalia weitgehend verwehrt ist. Die Orientierung an Verletzlichkeit hat eine Neubestimmung der modernen Leitidee des autonomen und souveränen Subjekts eingeleitet: Sie wird zum Gegenbegriff gegen ein Selbstbestimmtsein, wie es die Erfahrungswelt männlicher, weißer, einheimischer Menschen bestimmen mag, aber nicht die von Frauen, Coloured People oder Zugewanderten. Darüber hinaus: Verletzlichkeit ist eine Erfahrung, die allen Menschen gemeinsam ist. Sie ist Teil der Lebensgeschichte jedes Menschen und kann im Leben aller – auch der Stärksten, Geschütztesten, Intergriertesten, Besten – bestimmend werden. Sie ist keine Festlegung, die Menschen in „Schubladen“ einteilt – im Unterschied zu Begriffen wie etwa „Flüchtlinge“, „Ausländer“, „Behinderte“, Bettler“ usf.

Schließlich: Was heißt „Praxis“?

Zivilgesellschaftlich getragene Menschenrechtspraxis beschränkt sich in der Regel nicht auf den engeren Bereich von rechtlich definierten Grundrechten, sondern benennt jene Problembereiche, wo der ideelle Anspruch der Menschenrechte nicht eingelöst oder gar verletzt wird. Sie formuliert in „Schattenberichten“, permanenten informellen Monitorings, in veröffentlichten Berichten, Expertisen oder Stellungnahmen strukturelle Defizite, Handlungsbedarfe und Veränderungsnotwendigkeiten. Vier Problembereiche sind es, die in der regionalen Menschenrechtspraxis in Österreich immer wieder eine zentrale Rolle spielen: Rassismus und Diskriminierung, Flucht und Asyl, Religions- und Weltanschauungsfreiheit sowie Armutsbetroffenheit.

Ein zentrales Element regionaler Praxis ist ein möglichst umfassendes Monitoring für Menschenrechte vor Ort. Im Monitoring werden Menschenrechtsverletzungen systematisch beobachtet, dokumentiert, veröffentlicht und Forderungen zur Verbesserung der Situation formuliert. Dazu braucht es eine unterstützende Struktur, durch die solche Beobachtungen aufgenommen und gesammelt werden – etwa in der Form eines Netzwerkes von Beratungsorganisationen, Sozial- und Bildungseinrichtungen, NGOs, Selbst(hilfe)organisationen, religiösen Gemeinden etc. Die Dokumentation enthält in der Regel folgende Elemente: Falldarstellung – juristische Informationen (z.B. Verfahrensstand im Asylverfahren; Diskriminierung nach dem Gleichbehandlungsgesetz: ja oder nein) – bisher gesetzte Interventionen – in den Fall involvierte Organisationen / Beratungseinrichtungen – Bezug zu einem oder mehreren Menschenrecht(en) gemäß der Allg. Erklärung und/oder gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Menschenrechte bleiben eine abstrakte Norm, ein rechtlicher Rahmen, der in den Erfahrungswelten der Menschen keine Rolle spielt, wenn sie nicht „verortet“ sind, d.h. wenn sie nicht von engagierten Menschen in meiner Nachbarschaft, in meinem Viertel, in meiner Gemeinde, in meiner Stadt eingefordert und gelebt werden – und zwar für alle, vor allem für jene, denen sie am wenigsten zugebilligt werden. Darum braucht es – mehr denn je – ein regionales Engagement für Menschenrechte vor Ort.

Literaturhinweise

Buchpräsentation

Im Rahmen der Veranstaltung „Menschenrechtskultur leben!“ präsentiert der Autor sein Buch „Regionale Menschenrechtspraxis: Herausforderungen – Antworten – Perspektiven“

Di., 01. Oktober 2019, 18:30 Uhr-20:00 Uhr, Stephanisaal, Curhaus, Stephansplatz 3, 1010 Wien

Autor

Josef P. Mautner

Josef P. Mautner
geb. 1955, Literaturwissenschaftler und Theologe, Geschäftsführer in der Kath. Aktion Salzburg und freier Autor. Seit 1999 kontinuierliche Arbeit in zivilgesellschaftlichen Projekten und in der regionalen Menschenrechtsarbeit. www.josefmautner.at.