Als Mitglied im Vorstand des österreichischen Versöhnungsbundes beschäftige ich mich mit Fragen der Gewalt und der Gewaltfreiheit. Eine der Grundüberzeugungen von Gandhi war, dass Gewaltfreiheit erst in der Konfrontation mit der Gewalt gelebt und praktiziert werden kann.
Diese Erkenntnis macht deutlich, dass es sich bei Gewaltfreiheit nicht zuerst um eine abstrakte Theorie handelt, die durch den Intellekt verstanden werden kann, sonders um eine gelebte Praxis und einen andauernden Prozess.
Denn Gewaltfreiheit bleibt ein hohles Ideal, wenn sie sich nur in unserer Sprache, nicht jedoch in unseren Taten niederschlägt. Wenn wir plötzlich von Polizeigewalt getroffen, beschimpft werden oder ZeugInnen einer ungerechtfertigten Abschiebung sind – dann erst bemerken wir, wie schwierig es ist, diese Gewaltfreiheit zu leben. Es ist eine ständige Herausforderung, bei der wir nicht nur gegen die Gewalt in der Welt, sondern auch gegen die Gewalt, die sich in uns eingeschrieben hat und die wir verinnerlicht haben, kämpfen müssen. Eine Gewalt, die letztendlich genauso Teil dieser Welt ist. Deswegen bedeutet Gewaltfreiheit auch, die eigene Verstrickung in gewaltvolle Verhältnisse zu erkennen. Das fällt besonders schwer, wenn es um strukturelle Gewalt geht, von der wir leicht die Augen verschließen können, zum Beispiel beim Kauf von Kleidung, Nahrung, elektronischen Geräten etc., welche unter unterdrückerischen Verhältnissen produziert wurden. Es ist schwierig, wohl fast unmöglich, nicht irgendwo in unserem Handeln Gewalt zu stützen.
Gandhi wies darauf hin, Gewaltfreiheit niemals als Feigheit misszuverstehen. Satyagraha (Festhalten an der Wahrheit) nannte er die Gewaltfreiheit, die aktiv gelebt wird, im Gegensatz zum passiven Widerstand.
In einem einjährigen Aufenthalt in einer Gemeinschaft von Gandhi in Indien habe ich erlebt, wie diese Praxis das Leben der Menschen, die sich nach ihr richten, in einer Ganzheit durchdrungen hat. Ein Leben zu führen, welches unserer Umwelt und uns so wenig Gewalt und Leid wie möglich zufügt, reflektiert die Art und Weise zu konsumieren, sich zu bewegen, zu kommunizieren und Widerstand zu leisten. In meinem Fall hat es auch bedeutet, mich mit der Gewalt des Kolonialismus auseinanderzusetzen, dessen Bilder sich tief in die Gesellschaft eingegraben haben – auch in mich.
Zurück in Europa suchte ich nach Bewegungen, die diesen Geist der Gewaltfreiheit im Kampf gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit lebten. Immer wieder sah ich mich konfrontiert mit einer manchmal mehr oder weniger subtilen Gegengewalt in Widerstandsbewegungen. Eine der größten Gefahren – die ich auch bei mir erkenne – sehe ich dabei in einem Schwarz-Weiß Denken: Die Welt in Gut und Böse einteilen. Wir, die Guten, die gegen die Bösen kämpfen. Und dabei verkennen, dass wir alle in Gewalt verstrickt sind. Gewaltverhältnisse sollen dadurch jedoch keineswegs relativiert oder ignoriert werden.
Protest gegen US Atombomben in Deutschland
Es war ein Protest gegen in Deutschland stationierte US Atombomben, welchen ich dieses und letztes Jahr für eine Woche im Rahmen eines Dokumentarfilms mit meiner Kamera begleitete, bei dem ich den Geist von Gandhi wiederfand – ein Beispiel für praktizierte Gewaltfreiheit.
20 Wochen lang jährlich wird seit drei Jahren in Büchel (Rheinland-Pfalz) gegen Atombomben des Typs B-61 protestiert, die dort entgegen dem Atomwaffensperrvertrag von 1968 illegalerweise gelagert werden. Zudem sollen diese bis 2020 durch neue Atombomben ersetzt werden, die derzeit in den USA gebaut werden.
Aus diesem Grund kommen jedes Jahr AktivistInnen aus europäischen Ländern und insbesondere den USA zu dem Protest nach Deutschland. Zum wiederholten Male sind dieses Jahr AktivistInnen in einem Akt des zivilen Ungehorsams in das Militärgelände eingedrungen, um auf diese Situation aufmerksam zu machen.
Das Ziel des Protestes ist es, die Bevölkerung darüber aufzuklären und einen Diskurs darüber in Gang zu bringen, da wenige von dieser Stationierung Bescheid wissen. Dabei werden bewusst Gesetze gebrochen, um einen Gerichtsprozess zu bekommen, bei dem über diesen Missstand öffentlich gesprochen werden kann.
Andererseits wird der direkte Kontakt und das Gespräch mit den Militärs, der Polizei und der Richterin gesucht. Die Protestierenden machen deutlich, dass sie in diesem Gegenüber einen Menschen sehen. „Wir sind nicht gegen euch, aber gegen die Bomben“, stand auf einem Schild, welches am Eingang des Protestcamps, hundert Meter entfernt von der Militärbasis, stand. Und zugleich werden Polizei und Militär darauf aufmerksam gemacht, dass sie mit ihrem Tun dieses Unrecht stützen und schützen. Nach einer Aktion, in der 18 Personen mit Bolzenschneidern in das Gelände eingebrochen waren, wurden die AktivistInnen mehrere Stunden verhört: für sie eine wertvolle Möglichkeit, mit den VerhörerInnen über das Leid, welches diese Bomben produzieren, zu sprechen. Bei einem Gespräch mit dem Polizeichef erzählte mir dieser später, wie sehr es ihn – bei allem Unverständnis für diese Mittel – berührt hat, mit welcher Aufrichtigkeit und Hingabe die Personen beim Verhör gesprochen haben. Ihr Engagement hat ihn berührt, vielleicht sogar einen Prozess in ihm in Gang gesetzt.
In einer Diskussion, wieviel Menschen in der Öffentlichkeit mit dieser Aktion erreicht werden, antwortete mir eine Protestierende: „Alleine eine Person zu berühren, einen Militär zum Denken anzuregen, ob das vertretbar ist, hier Atomwaffen zu lagern, alleine dafür lohnt es sich.“
Einige der Protestierenden wurden mit besonderer Härte aufgegriffen, als sie in das Gelände einbrachen – Hunde wurden auf sie gehetzt und sie wurden mit Gewehren zu Boden gedrückt. „Die Angst im Anderen, in diesem jungen Soldaten zu erkennen, hat mir geholfen, in dieser Situation der Gewalt Verständnis für mein Gegenüber zu zeigen“, erzählt der Protestierende.
Der Weg zum Ziel
Dieser Protest wurde mit Trainings in gewaltfreier Aktion vorbereitet, eine Vorbereitung, die bei Gandhi, Martin Luther King und vielen anderen gewaltfreien Bewegungen als notwendig und essentiell erachtet wurde. Da wir in gewaltvollen Verhältnissen aufwachsen, sind auch wir geprägt von Gewalt. Wir müssen erst erlernen, nicht reflexartig mit den gleichen Mitteln wie unser Gegenüber zu antworten. Es geht dabei nicht um ein taktisches Training, sondern vielmehr um eine ganzheitliche Reflexion: Wieso wählen wir welche Mittel? Was wollen wir damit erreichen? Und wo sind wir schon blind geworden in unserem Kampf?
Teil dieser Reflexion waren auch die täglichen Gebete – oftmals wurde eine Blockade vor dem Haupttor durchgeführt – die immer wieder daran erinnern sollten, sich nicht zu verschließen vor der Gewalt, die hier passiert. Eine Betende bat darum, sich in dem Protest nicht blind mitreißen zu lassen und unhinterfragte Slogans zu rufen. Ja, ich kenne diese Momente, wo wir uns euphorisch mitreißen lassen von den Massen, ohne selbst noch zu beurteilen, was wir tun.
Was ich in dieser Woche nicht gesehen habe, weil ich vielleicht zu kurz da war, ist der Kontakt der Protestierenden zur lokalen Bevölkerung, die an erster Stelle von dieser Stationierung betroffen ist.
Aufgrund des Protestes und vieler Blockaden zum Militärgebäude bildeten sich oft Staus. Der Busfahrer, mit dem ich nach Büchel fuhr, beschwerte sich, dass er wegen der DemonstrantInnen einen Umweg fahren muss, deswegen keine Pause machen kann und Probleme mit seinem Chef bekommt.
1931 fuhr Gandhi nach Großbritannien zur Roundtable Konferenz und traf sich mit den TextilarbeiterInnen in Lancashire, die vom Boykott der Baumwollprodukte durch die indische Bevölkerung betroffen waren. Gandhi war sich darüber im Klaren, dass dieser Boykott schwerwiegende Konsequenzen für diese ArbeiterInnen haben würde und wollte ihnen mit dem Besuch zeigen, dass sie ihm nicht egal waren – und ihnen trotz allem die Notwendigkeit dieser Aktion erklären. Es heißt, dass viele ArbeiterInnen daraufhin Verständnis für den Boykott zeigten – denn Gandhi hatte das Gespräch mit ihnen gesucht.
Wie all unser Handeln kann auch gewaltfreie Aktion negative Konsequenzen tragen und Menschen treffen, die nicht direkt mit dem Konflikt in Verbindung stehen. Dieses entstandene Leiden zu sehen, anzuerkennen und trotzdem die Notwendigkeit der Aktion aufzuzeigen (da uns Atomwaffen alle etwas angehen) erscheint mir fundamental, wenn wir nicht mehr Ignoranz und Missverstehen sähen wollen. Denn so beginnen die Mauern und das Unverständnis zwischen den Menschen zu wachsen.
Beim illegalen Eindringen in Büchel handelt es sich nicht um eine einmalige Aktion. In den 80er Jahren in den USA entstand eine christlich inspirierte Antikriegsbewegung, welche sich auf die Bibelstelle ‚Schwerter zu Pflugscharen schmieden‘ beruft und in Aktionen des zivilen Ungehorsams Militärgeräte sabotiert und manchmal beschädigt. Diese Sachbeschädigung wird von den AkteurInnen als ‚Abrüstung von unten‘ proklamiert.
Im April 2018 – zum 50. Jahrestag von Martin Luther Kings Ermordung – brachen sieben AktivistInnen in eine der weltweit größten U-Boot-Basen der Welt ein, wo mehrere Bomben mit der 500fachen Sprengkraft der Hiroshima Bombe lagern. Auch hier war das Ziel, auf diese erdrückende Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen. Im Oktober wird ihr Gerichtsprozess beginnen – den „Kingsbay Plowshares“, wie die AktivistInnen genannt werden, drohen bis zu 25 Jahren Haft.
Diese Beispiele zeigen, wie präsent und notwendig der Weg der Gewaltfreiheit, den Gandhi und viele andere vor und nach ihm gingen, in unser heutigen Zeit ist.
Zu Gandhis 150. Geburtstag findet von 27.-29. September in Linz ein Symposium zur aktiven Gewaltfreiheit mit dem Titel „Etwas Tun! Aber Wie?“ statt, bei dem es genau um diese Fragen gehen wird: Wie können wir an der Welt bauen, die wir uns wünschen? Welche Mittel wählen wir? Was können wir von vergangenen Beispielen für gegenwärtige Kämpfe lernen?
Links und Literaturhinweise
- KingsBay Plowshares: www.kingsbayplowshares7.org
- Büchel: www.buechel-atombombenfrei.jimdo.com/international/
- Symposium: www.gandhi-symposium.info
- Sebastian Kalicha: „Gewaltfreier Anarchismus & anarchistischer Pazifismus“ Auf den Spuren einer revolutionären Theorie und Bewegung. Graswurzelrevolution (2017).
Autorin

Cristina Yurena Zerr
ist Mitglied im Vorstand des österr. Versöhnungsbundes und lebte ein Jahr lang in einer von Gandhi gegründeten Gemeinschaft in Indien. Seither beschäftigen sie die Fragen der Gewalt und der Gewaltfreiheit im persönlichen Handeln wie auf der strukturellen Ebene. Derzeit arbeitet sie an einem Dokumentarfilm über christlichen Glauben und Widerstand und sucht dafür noch Finanzierung.
Kontakt: cristina.zerr@posteo.de / +43 677 618 273 36