Im Rahmen der immer komplexer werdenden Strukturen und der Globalisierung haben viele Menschen eine Sehnsucht nach Überschaubarkeit, Vertrauen und solidarischer Teilhabe. Dies stimmt prägnant mit dem Genossenschaftskonzept von Friedrich Wilhelm Raiffeisen überein. Das Kirchturmprinzip als Symbol für einen Sozialraum, der sich überblicken lässt, stand bei ihm an vorderster Stelle.
Entsprechend entwickeln sich heute besonders im ländlichen Raum neue Genossenschaften, die einen Dorfladen betreiben, die Wohnmöglichkeiten für ältere Menschen in ihrer vertrauten Umgebung mit entsprechender Infrastruktur aufbauen oder die umweltverträgliche Energieversorgung als Bioenergiedörfern sicherstellen.
Quartiersgenossenschaften (oder: Stadtteilgenossenschaften) sind das Gegenstück dazu in der Stadt. Sie schaffen in einem Stadtteil Einkaufsmöglichkeiten, organisieren Nachbarschaftshilfe in Form von Seniorengenossenschaften oder setzen sich in ihrem unmittelbaren Umfeld für den Erhalt von Gebäuden mit kulturellen und sozialen Nutzungsmöglichkeiten ein. Die Renaissance der Genossenschaftsidee korrespondiert mit dem Wunsch engagierter Bürger, die Strukturen „ihres Viertels“ nicht investorendominiert, sondern nutzerinnenorientiert gestalten zu wollen.
Unternehmensmorphologie – Abgrenzung unterschiedlicher Wirtschaftsformen
In der Realität wirtschaftlicher Unternehmen gibt es vielfältige Ausgestaltungen. Diese genauer in ihren Besonderheiten zu betrachten, wird als unternehmensmorphologische Methode bezeichnet. Die Unternehmensmorphologie hilft, die Besonderheit der genossenschaftlichen Organisation zu anderen Unternehmensformen zu verdeutlichen. Solche Ausarbeitungen beinhalten:
- Genaue Analyse und Beschreibung der wesentlichen Merkmale;
- Aufdecken der Besonderheiten, Wissenserfordernisse und Schwachstellen, eventuell mit Spezifikationen für Sonderfälle;
- Herausarbeiten von Optimierungsmöglichkeiten sowie Handlungs- und Managementhilfen;
- Evaluierung von Erfolg oder Misserfolg solcher Handlungshilfen.
In der Wirtschaftswelt lassen sich grob vereinfacht vier Unternehmenstypen herausarbeiten: die Marktunternehmen, die nach dem Gewinnprinzip agieren, die Genossenschaften, die nach dem Förderprinzip für die Mitglieder handeln, die Sozialunternehmen, die dem Hilfsprinzip für Dritte unterliegen und die Öffentlichen Unternehmen, die der Daseinssorge der Bürger in ihrem Handlungsbereich verpflichtet sind. Alle vier Unternehmenstypen sind sowohl bei ihrer Gründung als auch bei ihrem jeweiligen alltäglichen wirtschaftlichen Handeln anderen Erfordernissen und Gesetzmäßigkeiten unterworfen. Dies wird am Beispiel des Gründungsmanagements in dem nachfolgenden Morphologischen Kasten aufgezeigt.
Genossenschaftsprinzipien – Besonderheiten kooperativer Unternehmen
Anhand der Gegenüberstellung im Rahmen der Unternehmensmorphologie wird deutlich, dass Genossenschaften anders sind als die übrigen Unternehmensformen. Im Unterschied zur juristischen Literatur, in der die Genossenschaft oftmals einfach auf eine Rechtsform reduziert wird, verfolgt sie Unternehmensprinzipien, die sich erheblich von den übrigen Unternehmen unterscheiden. Diese lassen sich gut anhand von vier Prinzipien herausarbeiten. Sie können in allen Rechtsformen umgesetzt werden.
Das heißt, auch eine Unternehmung, die rechtlich eine eG ist, eine eingetragene Genossenschaft, muss demnach nicht tatsächlich eine Genossenschaft sein. Und umgekehrt kann jede Rechtsform mehr oder weniger genossenschaftlich strukturiert werden. Dies lässt sich daran überprüfen, ob und in welcher Ausprägung sie die vier genossenschaftlichen Organisationsprinzipien umsetzen – das Förderungs-, das Identitäts-, das Demokratie- und das Solidaritätsprinzip:
- Förderungsprinzip: Nicht die Kapitalverwertung, sondern die Nutzerorientierung und die Befriedigung von Bedürfnissen der Mitglieder stehen im Vordergrund.
- Identitätsprinzip: Zwei Gruppen, die sich sonst am Markt gegenüberstehen wie Mieter und Vermieter oder Dienstleistungsanbieter und -nutzer, werden identisch, geben ihre „einseitige“ Rolle auf.
- Demokratieprinzip: Unabhängig von der Einlage bzw. der Höhe der Kapitalbeteiligung verfügt in der Mitgliederversammlung jedes Mitglied über eine Stimme.
- Solidaritätsprinzip: Besonders in der Aufbauzeit und in Krisenzeiten muss auf die ausschließliche Durchsetzung der individuellen Interessen verzichtet werden (unbezahlte Vorleistungen / Ehrenamt). Außerdem erhält das einzelne Mitglied bei Austritt keinen Anteil am inneren Wert, also an dem Vermögen des genossenschaftlichen Unternehmens.
Quartier als Handlungsraum für Genossenschaften
Wie angesprochen gehört bei Friedrich Wilhelm Raiffeisen neben vielen anderen Überlegungen das Kirchturmprinzip zu den wichtigsten Grundlagen des erfolgreichen Handelns von Genossenschaften. Viele, die sich auf ihn berufen, weichen eklatant ab von diesem zentralen Anliegen. Das Kirchturmprinzip steht dabei für einen überschaubaren Sozialraum. Durch diesen entstehen gemeinsame Interessen und Überschneidungen bei den Bedarfen.
Im städtischen Raum kann das Quartier als Pendant zum Dorf und damit zum Kirchturmprinzip gesehen werden. Quartiersgenossenschaften sind den sogenannten Fördergenossenschaften zuzuordnen. Sie unterstützen die angeschlossenen Haushalte und Unternehmen unter Wahrung, Erhaltung oder gar Stärkung ihrer wirtschaftlichen Selbstständigkeit bei der Quartiersentwicklung. Ihre Gründung erfolgt auf Initiative von Akteuren in einem Quartier, die für ihr Lebens- oder Arbeitsumfeld bessere Bedingungen durch Dienstleistungen und Angebote unterschiedlichster Art entwickeln.
Kennzeichen sind die Umsetzung der vier genannten Organisationsprinzipien und die Konzentration auf einen abgegrenzten räumlichen Zusammenhang: das Quartier. Ihre Bezeichnung stellt demnach sozialräumliche Überschaubarkeit in den Mittelpunkt. Ihr Zweck und Unternehmensgegenstand können sich erheblich unterscheiden. Empirisch lassen sich verschiedene Ansätze beobachten. Diese sind nicht immer scharf gegeneinander abzugrenzen, sondern weisen Überschneidungen auf:
- Quartiersentwicklung mit Kultur: Unterschiedlichste Menschen im Stadtteil erfahren Fremdheit und Gemeinschaft durch Kulturaustausch und Engagement.
- Gestalten des gemeinschaftlichen Wohnumfelds: Alte oder neu entstehende Quartiere gewinnen ein gemeinsames Selbstverständnis durch Entwicklung neuer Dienstleistungen und Aufbau von Orten des Austauschs.
- Energieversorgung kooperativ organisieren: Erneuerbare Energien für Strom und Wärme, optimale Gebäudedämmung, geringes CO2-Budget durch entsprechende Quartierskonzepte stehen im Mittelpunkt.
- Stärkung des lokalen Gemeinwesens: Besonders in Quartieren mit Bewohnern, die über wenig Einkommen verfügen und sozial schlechter gestellt sind, werden Beratung, soziale Angebote und Hilfen zur Integration benötigt.
- Gegenseitige Hilfe in der Nachbarschaft: Generationenübergreifend werden besonders für Senioren die Wohnmöglichkeiten in den eigenen vier Wänden durch Nachbarschaftshilfe erleichtert.
Handlungswissen – Differenzierte Erfordernisse für Quartiersgenossenschaften
In der klassischen Betriebswirtschaftslehre werden oft aus der Theorie per Deduktion Aussagen über Einzelfälle gemacht. Bei der Unternehmensmorphologie werden anhand empirisch wahrgenommener Typen oder Fallbeispiele per Induktion Erkenntnisse erarbeitet. Im induktiven Lernprozess können aus den gesammelten experimentellen Fakten, Beobachtungen oder Fallbeispielen allgemeine Aussagen getroffen werden. Mit ihnen lässt sich dann beispielabhängig ein neues Modell bzw. Genossenschaftskonzept generieren oder es kann datenabhängig ein Analogieschluss gezogen werden. Es wird vom Besonderen aufs Allgemeine gefolgert.
Das bedeutet, die oben skizzierten Unternehmensmorphologie kann helfen, für Quartiersgenossenschaften und damit für eine Betriebswirtschaftslehre der Kooperative handlungsorientiertes Wissen zu erarbeiten (Blome-Drees / Flieger 2017, 284). Eine Skizzierung der Geschäftsmodelle verschiedener Quartiersgenossenschaften würde dann auf dem Vorgehen der Unternehmensmorphologie beruhen. Mit ihr werden verschiedene Unternehmensansätze besser erkennbar und damit einer Steuerung bzw. einer gezielten Entwicklung von Handlungshilfen zugänglicher. Dabei kann aus der Gesamtmenge aller Unternehmen dies auf Genossenschaften mit ihren besonderen Merkmalen und Anforderungen ausgerichtet werden und typenspezifisch auf neue Quartiersgenossenschaften konkretisiert werden.
Hinweis
ksoe-Lehrgang Solidarisch Wirtschaften, Mai – November 2019
blog-Autor Burghard Flieger ist einer der Berater am Lehrgang.
Nähere Informationen >
28.2., 8:30 – 10:00 Uhr, Wien: ksoe-Frühstück „Katholische Soziallehre – Ausdruck Solidarischer Ökonomie“ mit Schasching-Fellow der ksoe Andreas Exner. Achtung: anderer Ort als üblich! Mit Informationsmöglichkeit zum Lehrgang Solidarisch Wirtschaften und zwei Betrieben der Solidarischen Landwirtschaft
Informationen und Anmeldung >
Autor

Burghard Flieger
berät seit über 30 Jahren Genossenschaften mit dem Schwerpunkt neuer Genossenschaften im Sozial-, Energie- und Wohnungssektor sowie Produktivgenossenschaften und Genossenschaften der Solidarischen Landwirtschaft. genossenschaft@t-online.de