Direkte Demokratie: Gefahr oder emanzipatorische Vision?

mehr demokratie!

Seit dem Brexit-Referendum über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU und seit einigen Volksabstimmungen in der Schweiz mit rechtspopulistischem Inhalt wird Direkter Demokratie vermehrt Skepsis entgegengebracht. Dazu kommt in Österreich, dass der lautstarke Einsatz der rechtspopulistischen FPÖ für Direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild Fragen und Vorbehalte auslöst, was die FPÖ mithilfe Direkter Demokratie vorhaben könnte. All dies ruft Skepsis gegenüber Direkter Demokratie hervor, die mancherorts auch in grundsätzliche Ablehnung von Volksabstimmungen mündet.

Aber wird dabei nicht das Kind mit dem Bad ausgeschüttet? Werden mit der Fokussierung auf die Risiken der Direkten Demokratie nicht ihre Chancen und ihr Potenzial verdrängt? Dieser Blog-Beitrag geht auf Kritikpunkte an Direkter Demokratie ein und möchte das einseitige Bild zurechtrücken, das häufig durch partei- bzw. machtpolitischen Missbrauch direkt-demokratischer Instrumente geprägt ist. Denn Direkte Demokratie trägt die Vision einer selbstbestimmten mündigen Gesellschaft untrennbar in sich, was gerade angesichts der aktuellen Herausforderungen nicht aufgegeben werden darf.

Sind direkt-demokratische Verfahren deliberativ?

Im ksoe-Dossier „Demokratie stärken“ hat Eva Hruby die direkt-demokratischen Beteiligungsformen als konfrontativ und deklaratorisch bezeichnet und hat sie den deliberativen Verfahren als Gegensatz gegenübergestellt. Ist dieser Antagonismus zwischen Direkter Demokratie und Deliberation aber richtig?

Zunächst ist richtig, dass Volksabstimmungen konfrontativ ist. Darin liegt aber auch seine Stärke, eine wirksame Gegenmacht zur machthabenden Regierungsmehrheit zu ermöglichen. Macht wird mithilfe Direkter Demokratie breiter verteilt und geteilt. Diese Gegenmacht erzeugt aber auch antizipierende Wirkungen. Die Regierung wird also vorausschauend die Interessen der Bevölkerung berücksichtigen, um eine Volksabstimmung zu vermeiden. Verbindliche Direkte Demokratie bewirkt daher durch ihre bloße Existenz noch vor ihrer konkreten Nutzung konsensuale Effekte und führt zu Deliberation.

Das von der Demokratie-NGO „mehr demokratie!“ vertretene Modell der „Direkten Demokratie von unten“ lehnt umgekehrt aber „von oben“, dh. durch die Regierungsmehrheit angesetzte Volksabstimmungen ab. Diese haben eine Tendenz zum Machtmissbrauch und zur Schwächung oppositioneller Kräfte. Sie sind somit auf eine Schwächung des demokratischen Wechselspiels ausgerichtet. Auch David Cameron‘s Brexit-Referendum wurde aus machtpolitischem Kalkül „von oben“ angesetzt. Diesen machtpolitischen Ursprungsfehler konnte die Abstimmungsdebatte nicht mehr loswerden. Es blieb bei einem verengten Blick, der die Breite und Komplexität der Konsequenzen aus einem Brexit nicht (bzw. nur in den Eliten-Debatten) abdecken konnte.

Das Modell der „Direkten Demokratie von unten“ betont Deliberation und Diskurs als einen von fünf wesentlichen Grundsätzen des direkt-demokratischen Prozessdesigns (neben Bürger_innenfreundlichkeit, Wirksamkeit, Fairness und Menschenrechts-Konformität). Deliberation erfolgt in allen Teilen des direkt-demokratischen Verfahrens in unterschiedlicher Weise, beim Finden und Formulieren des Anliegens innerhalb der Allianz, die eine Initiative plant; in den Gesprächen beim Unterschriftensammeln; in der Debatte zwischen Initiative und Parlament im Rahmen des drei-stufigen Verfahrens, die nach dem Modell von mehr demokratie! noch Anpassungen der Initiative zulässt. Letztlich ist auch die Volksabstimmungsdebatte zwischen den verschiedenen Interessengruppen und die Erarbeitung der Abstimmungsbroschüre, die in einem fairen Redaktionsprozess die Argumente beider Seiten in einfacher Sprache gegenüberstellt, von Deliberation geprägt und fördert unmittelbar politische Bildung, da die Möglichkeit zu entscheiden, das Interesse ansteigen lässt.

Entgegen häufiger Behauptungen kann das direkt-demokratische Verfahren auch in einer Weise ausgestaltet sein, dass sich Kompromissmöglichkeiten eröffnen. So kann dem Parlament die Möglichkeit offenstehen, einen Gegenvorschlag mit zur Abstimmung zu stellen. Dieser Gegenvorschlag wird meist einen Kompromiss zwischen dem eingebrachten Gesetzesvorschlag der Initiative und den Interessen der Parlamentsmehrheit darstellen. Beim Erarbeiten des Gegenvorschlags können sich auch Verhandlungskonstellationen zwischen Parlament und Initiative ergeben. Es könnte nämlich auf die Volksabstimmung verzichtet werden, wenn der Gegenvorschlag des Parlaments die Ziele der Initiative zufriedenstellend erfüllt.

Kann aus dem Schweizer Modell momentan wirklich nichts Positives gelernt werden?

Michael G. Kraft setzt sich im Mosaik-Blog mit der Frage auseinander, was von der Schweizer Direkten Demokratie gegenwärtig gelernt werden kann. Er kommt zum Ergebnis, dass es momentan wenig zu lernen gibt. Einzig die Einsicht sei zu lernen, dass die Schweizer SVP Direkte Demokratie einsetzt, um die Öffentlichkeit abzulenken und um rassistische Hetze zu betreiben. Aber ist das wirklich alles?

Dem Hinweis auf die üblicherweise geringe Wahl- und Abstimmungsbeteiligung in der Schweiz ist entgegenzuhalten, dass – wie Uwe Serdült vom Demokratie Zentrum Aarau empirisch untersucht hat – sich 80% der Schweizer_innen im Laufe einer Legislaturperiode zumindest einmal an einer Volksabstimmung beteiligen. Es werden also nur etwa 20% der Stimmberechtigten durch Volksabstimmungen gar nicht erreicht und eingebunden. Diese Perspektive erschließt aber, dass es sich sehr wohl um eine insgesamt beachtliche Beteiligung handelt.

Außerdem weist Michael Kraft darauf hin, dass fortschrittliche Volksinitiativen, wie zB die 1:12-Initiative für gerechte Löhne oder die Volksinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen, nicht angenommen wurden. All diese fortschrittlichen Initiativen standen aber der Regierungsagenda entgegen und erreichten trotzdem durch die offizielle Volksabstimmungsdebatte enorme öffentliche Aufmerksamkeit. Es darf nicht übersehen werden, dass in unserem politischen System in Österreich es nicht vorstellbar wäre, gegen die ausdrückliche Regierungsagenda eine vergleichbare ausgedehnte offizielle Aufmerksamkeit zu erlangen.

Weiters weist Michael Kraft auf historische Beispiele in der Schweiz in den 1920ern hin, wonach sozialpolitische Verbesserungen in Volksabstimmungen nicht angenommen worden sind. Heute, 100 Jahre später, ist der Sozialstaat vergleichsweise gut ausgebaut. Die aktuelle politische Herausforderung liegt heute aber eher darin, dass sozialpolitische Standards aufrechterhalten und nicht gesenkt werden. Dazu kann dann aber sehr wohl von der Schweiz gelernt werden. Denn das Instrument des fakultativen Referendums, also die Veto-Volksabstimmung über neue vom Parlament beschlossene Gesetze, bietet die Möglichkeit, sich gegen Sozialabbau erfolgreich durchzusetzen, anstatt dagegen nur lautstark zu protestieren.

Regierungsvorschlag für Direkte Demokratie: unambitioniert und nicht bürger_innenfreundlich

Das Regierungsprogramm von ÖVP und FPÖ sieht 2022, also erst gegen Ende der Legislaturperiode eine Debatte über Direkte Demokratie vor. Daraus zeigt sich, dass es der Regierung mit ihrem Direkt-Demokratie-Vorschlag nicht um eine Änderung der gelebten und praktizierten politischen Kultur geht, sondern darum, auch im nächsten Wahlkampf wieder mit Direkter Demokratie auf Stimmenfang zu gehen.

Die Unterschriftenhürde von 900.000 (ca. 14%) addiert die bisherigen Positionen von ÖVP (10%) und FPÖ (4%), statt einen Kompromiss irgendwo dazwischen zu finden. Gemessen an bisherigen Volksbegehren wurde diese Hürde nur in wenigen vereinzelten Fällen überschritten. Damit holt das ÖVP-FPÖ-Modell aber keine zusätzlichen politischen Player ins politische Spiel. Dieses Modell kann angesichts dieser enorm hohen Hürde vielmehr nur durch Großorganisationen, Medien, Parteien und Reiche erfolgreich genutzt werden, die ohnehin auch schon jetzt einen guten Zugang zu politischen Entscheidungen haben. Es handelt sich also um ein unambitioniertes Direkt-Demokratie-Modell, das außerdem die Möglichkeit einer Veto-Volksabstimmung nicht vorsieht.

Nach einer Umfrage vom Dezember 2017 wünschen mehr als 80% der eigenen Wähler_innen von ÖVP und FPÖ Volksabstimmungen, die durch die Bevölkerung „von unten“ auslösbar sind. Diesen deutlichen Auftrag ihrer eigenen Wählerschaft haben die Regierungsparteien ignoriert.

Es kommt auf das WIE des direkt-demokratischen Prozessdesigns an

Direkte Demokratie aktiviert die Bürger_innen und ihr politisches Interesse, weil sie nicht nur Bittsteller gegenüber den Machthabenden sind, sondern sich auch durchsetzen können, gerade auch gegen eine Regierungsmehrheit. Politiker_innen antizipieren Interessen der Bevölkerung, um eine Volksabstimmung zu vermeiden. Letztlich sind Bürger_innen, die selber politische Entscheidungen treffen können, mit den getroffenen Entscheidungen und auch mit dem politischen System zufriedener.

Es kommt aber auf das direkt-demokratische Prozessdesign an. Alle Kritikpunkte an Direkter Demokratie lassen sich auch konstruktiv in ein durchdachtes Prozessdesign integrieren. Die entscheidende Frage ist daher nicht, OB es direkt-demokratische Verfahren geben soll, sondern WIE diese ausgestaltet sind.

Autor

Erwin Leitner
Erwin Leitner

Erwin Leitner
Jurist, Demokratieentwickler, Gründer und Bundessprecher der Demokratie-NGO „mehr demokratie!“

erwin.leitner@mehr-demokratie.at

http://mehr-demokratie.at/de/erwin-leitner