Digitale Souveränität setzt den selbstbestimmten Einsatz und die Gestaltung digitaler Technologien voraus, unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen, Schichten und Altersklassen. Doch wie kann diesem Vorsatz Rechnung getragen werden, wenn die Digitalisierungsbeteiligten alles andere als divers, sondern tendenziell männlich, weiß und jung sind?
Die Digitalisierung der Gesellschaft ist allgegenwärtig. Digitale Produkte, Instrumente und Dienstleistungen durchdringen heute den Alltag von VerbraucherInnen. Die damit verbundene Politik steht vor der Herausforderung, die individuelle Souveränität bzw. digitale Selbstbestimmung innerhalb wirtschaftlicher Mechanismen zu gewährleisten. Unter digitaler Souveränität versteht man die Handlungsfähigkeit, aber auch Entscheidungsfreiheit der VerbraucherInnen, in der digitalen Welt in verschiedenen Rollen (gleichzeitig) zu agieren, z.B. als MarktteilnehmerInnen, als KonsumentInnen aber auch als aktive ProduzentInnen in Netzwerken.
Digitalisierung und Geschlecht
Seit dem Entstehen der industriellen Gesellschaft ist die Teilung des Arbeitsmarktes aktuell immer noch stark „eingeschrieben“: Es existiert nach wie vor eine deutliche Trennung zwischen sogenannten Frauen- und Männerberufen. Besonders augenfällig ist dies in den MINT- Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) wo durch diverse Initiativen in den letzten Jahren bereits sichtbare Fortschritte erzielt wurden, gleichzeitig ist man jedoch immer noch von einer äquivalenten Geschlechterverteilung weit entfernt.
Zu der rein quantitativen Unterrepräsentation von Frauen in Technikberufen kommt auch eine qualitative Diskriminierung hinzu. So finden sich Frauen in Technikberufen in bestimmten, dem weiblichen Geschlecht tendenziell zugeschriebenen, Rollen wieder. Softwareentwicklerinnen zum Beispiel arbeiten oftmals in Gebieten, die als sozialorientiert gelten, wie z.B. dem Projektmanagement. Die techniknahen Bereiche hingegen bleiben eher männlichen Kollegen vorbehalten. Zudem ist der Frauenanteil im Topmanagement im IT-Bereich von nur 6,3% verschwindend gering. Somit kommt zu dem Gender Pay Gap im Informations- und Kommunikationstechnikbereich (IKT) auch noch das Problem der mangelnden Identifikationsmöglichkeit für weibliche Young Professionals hinzu.
Teufelskreis oder Hamsterrad? In jedem Fall manifestieren und reproduzieren sich derzeit Geschlechterverhältnisse im IT-Bereich. Technische Produkte für Menschen werden von Menschen hergestellt. Doch werden diese Produkte hauptsächlich von Männern hergestellt, fließen in erster Linie auch männlich geprägte Vorstellungen in die Produktgestaltung ein. Dieses Wechselspiel wird im wissenschaftlichen Diskurs auch als I-Methodology bezeichnet: ihr liegt das Prinzip zugrunde, dass Entscheidungen in Softwarewicklungsprozessen auf Basis eigener individueller Präferenzen getroffen werden. Gibt es einen Ausweg aus der I-Methodology?
Partizipative Technikgestaltung
Im Rahmen digitaler Transformation der Gesellschaft stellt sich nun die Frage, wie Partizipation erhöht und erlangt werden kann. Der Begriff „Partizipative Softwaregestaltung“ geht im deutschsprachigen Kontext wesentlich auf die Arbeiten von Christiane Floyd – der ersten Informatik-Professorin Deutschlands an der TU Berlin – zurück. Bekannt wurde sie mit STEPS, der „Softwaretechnik für evolutionäre, partizipative Systementwicklung“ (Floyd u.a. 1989). Dabei handelt es sich um einen prozessorientierten Ansatz der Softwaregestaltung, der die funktionale Rolle der Nutzenden beim Arbeiten mit dem System in den Vordergrund rückt und in den Softwaregestaltungsprozess von Beginn an partizipativ mit einbezieht. Dieser Ansatz zeitigte in der Informatik einen Paradigmenwechsel im Umgang mit den – bis dahin tendenziell unbeteiligten – Nutzenden. Partizipative Softwaregestaltung wird als ein zentraler Ansatz für die Einbeziehung der Geschlechterperspektive eingeschätzt, um der I-Methodology-Problematik entgegenzuwirken und den Frauenanteil in der IT insgesamt zu stärken.
Somit reicht es keinesfalls aus, einfach nur mehr InformatikerInnen auszubilden. Diese Fachkräfte müssen auch neue partizipative Methoden der Technikgestaltung erlernen. Auch müssen Maßnahmen umgesetzt werden, die Diversität/Gender beinhalten. Wie lassen sich insbesondere diese Gender-Aspekte in die praxisbezogene IT-Lehre umsetzen?
(Wirtschafts-)Informatik und Gender in Aktion
Die Einbeziehung von Gender-Aspekten vollzieht sich im Rahmen der IT-Lehre an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin im Rahmen der Lehrveranstaltung „Projekt Software Engineering“ auf vier Ebenen.

Im Folgenden werden diese beispielhaft für den Robotik-Bereich kurz skizziert: Die eingesetzte Technologie (1) muss gestaltbar und offen sein, um zu gewährleisten, dass die InformatikerInnen die Roboter an die Bedürfnisse der Nutzenden anpassen können. Der Volksbot des Fraunhofer Instituts (Abb. 1) bietet die ideale Voraussetzung, um die Nutzungsperspektive einzubeziehen. Alle Komponenten, Instrumente und Tools sind konfigurierbar, ob Kamera, Roboterarm oder Sensorik oder auch alles gleichzeitig. Der Vorteil dieser Technologie liegt in der Möglichkeit, dass Technik als Prozess verstanden und erfahrbar gemacht werden kann und nicht als undurchdringbares Produkt unberührt bleibt.

Die inhaltliche Aufgabenstellung (2) bezieht sich auf den gesellschaftlichen Anwendungsbereich Gesundheit und Pflege. Abbildung 2 stellt die Arbeit einer Studentin dar, die eine Programmieraufgabe in der häuslichen Pflege in enger Zusammenarbeit mit einer pflegenden Angehörigen konzipiert und programmierseitig umsetzt. Der Roboter ersetzt hierbei nicht die Pflegekraft, sondern unterstützt die pflegende Angehörige. Die Unterstützungsleistung ist das Bringen von Wasser oder Tabletten durch den Roboter, sowie der autonome Wäschetransport in das Badezimmer.
Um der Gefahr der I-Methodology zu begegnen wird darauf geachtet, dass die Projektgruppen divers ausgerichtet sind. Die Roboter werden nur an Gruppen vergeben, die einen Frauenanteil von 50% und/oder einen hohen Anteil an Personen mit Migrationshintergrund aufweisen. Außerdem wird von der Betreuungsseite her auf eine gender/diversity-bewusste Didaktik (3) geachtet.
Alle Projektgruppenmüssen im Sinne der Vernetzung (4) im Rahmen einer öffentlichen Präsentation ihre Produkte zusammen mit den AuftraggeberInnen vorstellen und diskutieren.
Will man die Stellschrauben einer anwendungsbezogenen partizipativen Softwareentwicklung richtig einstellen, muss der Zusammenhang von IT-Entwicklung und Diversität/Gender konsequent ins Zentrum gerückt werden.
Durch die konsequente Einbeziehung der Geschlechterperspektive können neue Lehr- und Lernkonzepte in der Informatik einen niedrigschwelligen Einstieg und Sensibilisierung in die aktuelle Debatte der digitalen Transformation bieten. Kurzum: Partizipation + Gender = digitale Souveränität – und da wollen wir doch alle hin.
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Erasmus+ Projekts EQUAL Digitalent mit dem Thema „Gender Equality in Digital Entrepreneurship“
Literaturhinweise
Floyd, Christiane; Reisin, Fanny-Michaela; Schmidt, Gerthardt (1989): STPS to Software Development with Users., In: C. Ghezzi, J.A. McDermid (Hrsg.). ESEC ‘89, Lecture Notes in Computer Science no. 387. Springer, 1989. S. 48–64.
SVRV (2017): Sachverständigenrat für Verbraucherfragen ; Digitale Souveränität, Gutachten des Sachverständigenrats für Verbraucherfragen; Seite 1-38; Zugriff: 16.4.2919: http://www.svr-verbraucherfragen.de/wp-content/uploads/Gutachten_Di- gitale_Souver%C3%A4nit%C3%A4t_.pdf
Rau, Harald (2016): Der Souverän – wir haben ihn längst zu Grabe getragen. In M. Friedrichsen & P.-J. Bisa (Hrsg.), Digitale Souveränität: Vertrauen in der Netzwerkgesellschaft Wiesbaden: Springer VS, S. 79-92.
Den vollständigen Text mit allen Literaturangaben finden Sie hier >
Autorin

Heike Wiesner ist seit 2009 Professorin für „Betriebliche Informations- und Kommunikationssysteme“ im Studiengang Wirtschaftsinformatik an der Hochschule für Wirtschaft und Recht, Berlin. Ihre aktuellen Forschungen sind: Transformative Technologien, Partizipative Softwaregestaltung sowie Diversity/Gender-Forschung.
Mitautorinnen: Ina Tripp, Judith Schütze und Elif Erol, alle Hochschule für Wirtschaft und Recht, Berlin