Im Zuge der im Sommer 2018 viel diskutierten und umstrittenen Novelle des Arbeitszeitrechts ging in der öffentlichen Wahrnehmung beinahe unter, dass auch das Arbeitsruhegesetz zugunsten der Arbeitgeber „gelockert“ und „liberalisiert“ wurde (§ 12b ARG).
An bis zu vier Sonntagen oder Feiertagen pro ArbeitnehmerIn (AN) und Jahr kann nun, seit dem 1.9.2018, ohne sachliche Beschränkung, ohne jeden Nachweis von unverschiebbarer Erforderlichkeit, Arbeit angeordnet werden. Bisher musste eine der in Gesetz oder Verordnung festgelegten Ausnahmen von der allgemeinen Sonn- und Feiertagsruhe vorliegen, ab nun genügt eine Betriebsvereinbarung (BV) – bei der man die „freie“ Unterschrift der Betriebsratsvorsitzenden in Zeiten erhöhter Arbeitsplatzgefährdung vielfach hinterfragen kann – oder aber bloß die Unterschrift der/des einzelnen AN. Wenn man weiß, dass in kleineren Betrieben nur sehr selten ein BR besteht (oftmals deshalb, weil der Belegschaft seitens des Arbeitgebers oder Managements davon „abgeraten“ wird…), dann lässt sich jetzt schon absehen: In vielen betriebsratslosen Unternehmen, deren AN bisher uneingeschränkte synchrone Freizeit mit FreundInnen und Familie genießen konnten, wird künftig „freiwillig“ Sonntagsarbeit und Arbeit an Feiertagen zu leisten sein. Ausgenommen sind derzeit (noch?) Verkaufstätigkeiten nach dem Öffnungszeitengesetz: § 12b Abs 2 ARG.
Sonntags und Feiertags durcharbeiten: Mit einigen Arbeitsteams geht das nun
Weil nur an höchstens drei aufeinanderfolgenden Sonntagen, zusätzlich aber auch an einem damit in Verbindung stehenden Feiertag (Ostermontag, Pfingstmontag) Arbeit angewiesen und „vereinbart“ werden darf, kann jeder Unternehmer nun folgendermaßen vorgehen: Indem er die Belegschaft in 13 bis 15 Teams einteilt, kann er erreichen, dass in den Betrieben durchgängig auch an Sonn- und Feiertagen die Maschinen oder Dienstleistungen am Laufen bleiben. 13 mal 4 zulässige Sonntagsarbeiten ergibt 52 Kalenderwochen, und mit 2 zusätzlichen „Feiertagsteams“ können zudem die ca. 10 Feiertage pro Jahr, die nicht auf einen Sonntag fallen, abgedeckt werden. Ein Wunsch der Industriellenvereinigung, aber auch einiger Fachorganisationen innerhalb der Wirtschaftskammer (dem Vernehmen nach z.B. Informationstechnologie und ähnliche Branchen) ist in Erfüllung gegangen.
„Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es
die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.“
Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social [1762]
Das in Abs. 3 des neuen Paragrafen verankerte Benachteiligungsverbot und „Freiwilligkeitsprinzip“ ist auch hier äußerst kritisch zu hinterfragen. Im Gegensatz zu jüngst bekannt gewordenen Verstößen im Rahmen der neuen 12/60-Arbeitszeitgrenzen sind bei der Wochen-Arbeitsruhe nicht so viele „Zwangsvergatterungen“ im großen Stil bekannt geworden; noch nicht! Denn wer wagt es schon, im aufrechten Arbeitsverhältnis davon zu berichten, sich bei Gewerkschaft und AK darüber zu beklagen?
Eine Vereinbarung auf Betriebs- oder Einzelvertragsebene, was ist daran so schlimm?
Um diese Frage zu beantworten, ist es ratsam, sich das System der österreichischen Arbeitsrecht-Ordnung im Grundsatz anzusehen. Dabei handelt es sich um eine Mischung aus Arbeitsvertragsrecht (Privatrecht, bürgerliches Recht) und öffentlichem Schutzrecht (Verwaltungsrecht, staatlich-hoheitliche Exekutive). Arbeitszeit- und Arbeitsruheregelungen sind öffentliches Schutzrecht und so gut wie nie der vertraglichen Gestaltung, der sogenannten „Privatautonomie“, zugänglich. Zumindest bis zum 1.9.2018 war das so. In mehr als 30 (!) Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs (OGH), zusammengefasst in der im Rechtsinformationssystem der Republik leicht abrufbaren Rechtssatz-Nummer RS0021306, wird betont:
„Der Dienstvertrag oder Arbeitsvertrag im Sinne des § 1151 ABGB ist vor allem durch die persönliche Abhängigkeit des Arbeitnehmers, also durch dessen Unterworfenheit unter die funktionelle Autorität des Arbeitgebers, gekennzeichnet, welche sich in organisatorischer Gebundenheit, insbesondere an Arbeitszeit, Arbeitsort und Kontrolle äußert. Für den Arbeitsvertrag wesentlich ist daher eine weitgehende Ausschaltung der Bestimmungsfreiheit des Arbeitnehmers, welcher hinsichtlich Arbeitsort, Arbeitszeit und arbeitsbezogenes Verhalten dem Weisungsrecht des Arbeitgebers unterworfen ist, […].“ (Hervorhebungen durch den Autor dieses Blogbeitrags)
Wie soll nun ein im laufenden Arbeitsverhältnis tätiger AN seinen freien Willen durchsetzen, also „freiwillig“ zustimmen oder ablehnen können? Wie frei ist ein AN, der familiäre Sorgepflichten und Verantwortungen hat, dem aber vom Vorgesetzten gesagt wird, dass „da draußen“ eine Menge Arbeitssuchende auf seinen Arbeitsplatz geradezu „warten“? Dazu sei nochmals der OGH zitiert:
„[…] hat der erkennende Senat erst jüngst – wenn auch in anderem Zusammenhang – darauf hingewiesen, dass es von der arbeitsrechtlichen Lehre als dem Arbeitsrecht zugrundeliegend und geradezu typisch für die Verhandlungssituation des potenziellen Arbeitnehmers mit seinem Arbeitgeber angesehen wird, dass dem Arbeitnehmer bei der Vertragsgestaltung wenig Einflussmöglichkeiten zukommen und daher das Arbeitsrecht regelmäßig mit zwingenden oder einseitig zwingenden Regelungen [in Gesetzen, Verordnungen und Kollektivverträgen; Anm] an das tatsächliche Vorliegen dieser Umstände anknüpft.“ (OGH 8.8.2002, 8 ObA 277/01w)
> Nur generell-abstrakte und nicht verhandelbare Rechtsnormen auf Bundes-, Landes- oder Branchenebene können ArbeitnehmerInnen vor Druckausübung durch ihren Arbeitgeber schützen! So lassen sich diese Sentenzen des OGH über ein wirksames arbeitsrechtliches Schutzsystem zusammenfassen. Dieses System wurde nun durch die AZG- und ARG-Novelle 2018 massiv aus dem Gleichgewicht gebracht, vielleicht sogar zerstört.
Das Regel-Ausnahme-System bisher
Gründe dafür, dass nach den Erhebungen der Statistik Austria bis dato nur 15% der österreichischen ArbeitnehmerInnen regelmäßig an Sonn- und Feiertagen arbeiten müssen (weitere 8% fallweise), wobei diese Quoten bei Männern und Frauen langfristig gleich geblieben sind und in den letzten 20 Jahren praktisch keine Steigerung bemerkbar war:
- Jede/r AN hat primär Anspruch auf Wochenendruhe: Samstag ab 13 Uhr sowie den gesamten Sonntag sowie jeden Feiertag umfassend (Grundprinzip gemäß § 3 Abs 1 ARG).
- Grundsätzlich zwischen Samstag 13 Uhr und Montag früh dürfen AN nur beschäftigt werden, wenn eine der allgemeinen Ausnahmeregelungen oder eine der Sonderbestimmungen für bestimmte Betriebe oder Tätigkeiten zum Tragen kommt und dabei nur die unumgänglich notwendige Anzahl von AN beschäftigt wird (§ 2 Abs 2 ARG).
- Die §§ 10 – 22f ARG regeln rund 20 – 25 Kategorien von Ausnahmen von der Sonntagsruhe und/oder Feiertagsruhe mittels Gesetz, Verordnung, Bescheid oder zwecks „Standort- und Arbeitsplatzsicherung“ ausnahmsweise auch durch Kollektivvertrag.
- Bis 2017 wurden so gut wie immer die Sozialpartner (KollV-Parteien) angehört bei beabsichtigter Erweiterung des Anhangs zur § 12-VO
> Bis zum 31.8.2018 gab es bloß 7 Ausnahmekategorien im Gesetz, gegliedert in folgende Wirtschaftsbereiche (der öffentliche Dienst ist hier nicht erfasst):
- Gesundheitswesen und Sanitärdienste
- Urproduktion, Stein- und Glasverarbeitung
- Hüttenwerke, Metallerzeugung, Holzverarbeitung (Trockenkammern u.ä.)
- Bauarbeiten: Transportbeton, Vermessungen, Baustellen im öffentlichen Interesse (Tunnels, Kraftwerke, auf Verkehrsflächen)
sonstige unvermeidbare Spezialtätigkeiten in Industrie und Handwerk - Fernmeldewesen, Datenverarbeitung
- Gastgewerbe, Touristeninformation, Reiseleitung; Vergnügungsunternehmen pratermäßiger Art; Konferenzen, Kongresse
- Kunst, Kultur, Wissenschaft
- Kfz-Reparaturen, Störungsdienst bei Installationen
> Die zulässigen Tätigkeiten inkl. unvermeidbare Annextätigkeiten sind einzeln anzuführen und das notwendige Zeitausmaß ist festzulegen; zulässig waren nur folgende Begründungen:
- Notstand, Naturkatastrophen, unverhältnismäßiger wirtschaftlicher Schaden
- zur Befriedigung dringender Lebensbedürfnisse notwendige Arbeiten
- Freizeit- und Erholungsbedürfnisse, Fremdenverkehr
- Verkehr („zur Bewältigung notwendig“)
- Maschinen- und Anlagenunterbrechung technologisch nicht möglich
- Gefahr des Verderbens von Rohstoffen oder Misslingens von Produkten
- Bergbau
- Föderalistisches Element: Landeshauptmann kann durch VO Ausnahmen zulassen bei „außergewöhnlichem regionalem Bedarf für Versorgungsleistungen“
So verantwortungsvoll wurden bisher Ausnahmen verhandelt und beschlossen
Ein Fall, an dem der Autor dieser Zeilen als Sozialpartnervertreter beteiligt war, soll veranschaulichen, wie sorgfältig die Interessen der Wirtschaft und die sozialen Bedürfnisse der Beschäftigten bislang erörtert und abgewogen, und sodann aufs Notwendigste beschränkt in die Ausnahmeverordnung gemäß § 12 ARG (Sozialminister-VO) aufgenommen wurden.
Vor einigen Jahren hatte ein in Wien ansässiges Unternehmen der chemischen Industrie beim Sozialminister eine Ausnahme vom Arbeitsverbot an Sonn- und Feiertagen beantragt. Die neuen Maschinen zur Waschmittelerzeugung müssten vollkontinuierlich laufen, dies sei aus technologischen Gründen unabdingbar. Denn andernfalls verkleben diverse Leitungen und Maschinenteile.
Der Sozialminister lud die zuständigen Sozialpartner, nämlich Gewerkschaft, Wirtschaftskammer, Industriellenvereinigung und Arbeiterkammer zu Gesprächen und es wurde erörtert, ob denn das behauptete Nichtabschalten-Können nicht eher ein wirtschaftlicher als ein technologischer Grund sei. Denn es dürfte keine Ausnahmeverordnung erlassen werden, wenn das Verkleben zwar mit hohem Reinigungsaufwand ab Montag früh verbunden wäre, aber eben nicht „aus technologischen Gründen einen ununterbrochenen Fortgang erforderlich mache“, wie es der gesetzliche Ausnahme-Tatbestand vorgibt.
Nach Anhörung mehrerer Techniker sowie des Betriebsrats wurde als Sachverhalt festgehalten, dass zwar stundenlange Reinigungsarbeiten (Entfernung von Granulatrückständen in den Extrusionsmaschinen) denkbar wären, aber „die Technik“ der Maschinen sehr darunter leide. Letztlich wurde also doch ein technologisches und kein bloß wirtschaftlich-finanzielles Erfordernis für den vollkontinuierlichen Betrieb festgestellt. Jetzt musste auch noch erörtert und genau definiert werden, welche Tätigkeiten durch wie viele AN unbedingt erforderlich wären. Im Ergebnis kam man auf bloß fünf MaschinenarbeiterInnen pro Sonntag/Feiertag, und das in einem Industrieunternehmen mit hunderten Beschäftigten. Der Minister erließ auf der Grundlage der Sozialpartnereinigung sodann per Verordnung, dass die technisch erforderlichen Maschinen-Überwachungstätigkeiten zugelassen werden, aber eben nur diese!
Seit 1.9.2018 besteht ein Systembruch in mehrfacher Hinsicht
- Zurück zum wirtschaftsliberalen Prinzip der Vertrags“freiheit“ und der Individualisierung;
- In das öffentliche Schutzrecht (öffentlich-rechtlicher Verwendungsschutz) wird das reine Privatrecht hineingetragen;
- Bisherige Ausnahmen durch generelle Rechtsnormen (Gesetz, Verordnung, Standortsicherung-Kollektivvertrag) werden nun ersetzt durch konkret-individuelle Normen, nämlich BV (betriebliche Individualisierung = schwache Verhandlungsmacht, keine Entgeltregelung möglich) oder sogar Einzelvereinbarung, und das bei starkem Macht-Ungleichgewicht;
- Die restriktiven Voraussetzungen, auf welche die Gesetzesmaterialien Bezug nehmen (§ 7 Abs 4 AZG), nämlich „zur Verhinderung eines unverhältnismäßigen wirtschaftlichen Nachteils“ kombiniert mit „wenn andere Maßnahmen nicht zumutbar sind“ entfallen;
- Die Anzahl der unbedingt erforderlichen AN, das festzulegende Zeitausmaß für die „im einzelnen“ umschriebenen Tätigkeiten entfällt; es entfallen durch diese „Liberalisierung“ und Individualisierung der Sonntagsarbeit die Erfordernisse, dass vorab zu definieren ist/sind
– die unbedingt erforderlichen Tätigkeiten
– die daraus resultierenden unbedingt erforderliche Anzahl an AN
– das erforderliche Zeitausmaß und die zeitliche Lage der „Sonntagsunterbrechung; - Nach den Erläuterungen des Gesetzesantrags vom Juli 2018 („Gesetzesmaterialien“) bestehe ein „gewisser“ Benachteiligungsschutz, aber auch dieser bloß bei Überstunden (!).
> Die bisherige Quote von 15% Männern und Frauen, die regelmäßig an Sonntagen und Feiertagen arbeiten müssen, v.a. im Gesundheits- und Verkehrsbereich sowie in Tourismus und Gastronomie, wie hoch soll sie nach den Vorstellungen der Wirtschaft steigen? Wann ist der Plafond erreicht, wann wird die Profitgier und ihre Schwester, die Liberalisierung, genug haben?
Der Beitrag basiert auf einem Fachvortrag von Hannes Schneller (Arbeiterkammer) bei der Vollversammlung der Allianz für den freien Sonntag Österreich am 13.11.2018 in Wien. Die Arbeiterkammer (AK) ist Mitglieder der Allianz für den freien Sonntag Österreich (diese wird von der ksoe koordiniert).
Autor
Hannes Schneller
Experte für Arbeitsrecht und Aufsichtsrat-Recht in der Abteilung Sozialpolitik der AK Wien/Bundesarbeiterkammer beschäftigt. Er ist Fachautor, Lehrbeauftragter der Fachhochschule Campus Wien und des IFAM (Institut für Aufsichtsrat-Mitbestimmung) sowie finanzieller Förderer der Freiwilligen Feuerwehr Hartberg/Steiermark.