Das Gegenteil der Liebe und der Gerechtigkeit sind Ignoranz und Gleichgültigkeit.

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“We must discover the power of love, the redemptive power of love, and when we do that we will make of this old world a new world. For love is the only way.”

Mit seiner tief spirituellen Predigt anlässlich der Hochzeit von Prinz Harry und Meghan Markle am 19. Mai 2018 hat der anglikanische Bischof Michael Curry nicht nur das Brautpaar, sondern Millionen Herzen bewegt. Theologisch dicht und authentisch hat dieser Bischof aller Welt das Herzstück des Evangeliums verkündet: die weltverändernde Kraft der Liebe Gottes. Auch ich war zutiefst berührt.

Und doch war da ein Satz, der mir Unbehagen bereitet hat.

„Jesus began the most revolutionary movement in all of human history, a movement grounded in the unconditional love of God for the world.”

Christentum als revolutionärste Bewegung?

Jesus beginnt also – superlativisch sogar – die revolutionärste Bewegung der ganzen Geschichte – eine Bewegung, die in der bedingungslosen Liebe Gottes zur Welt gründet.

Mit ihm beginnt diesem Satz zufolge angeblich etwas radikal Neues – denn eine Revolution ist ein kompletter Umsturz eines alten Systems; und das Neue dieser Bewegung – gemeint ist offenbar die Kirche – gründet in der bedingungslosen Liebe Gottes zur Welt.

In dieser Formulierung schwelt sie, eine fast zweitausendjährige Tradition: Die Christ*innen  revolutionieren „das Alte“ mittels der Liebe. Dieses Alte aber kann nur die Gesetzesreligion der Juden sein – so wird es von vielen Menschen nach wie vor mehr oder weniger bewusst mitgehört. Uralte und folgenschwere christliche Denkfiguren schwingen in diesem Satz mit – wohl unbeabsichtigt und unbewusst:  die Entgegensetzung von Juden und Christen, der Gegensatz von Liebe und Gesetz, die Überwindung und Substitution des Judentums durch eine neue, hier sogar die revolutionärste Bewegung: die christliche Kirche. (Wie eine solche geschichtliche Darstellung für Juden klingen muss, die diese Revolution der Liebe zu spüren bekamen, kann ich hier nur kurz als Frage aufwerfen.)

Da nützt es auch wenig, wenn Bischof Curry – völlig korrekt – an die Herkunft des Gebotes der Gottes- und Nächstenliebe in der Hebräischen Bibel erinnert. Jesus “went back and reached back into the Hebrew scriptures, to Deuteronomy and Leviticus.“ Die Worte, die Curry hier wählt, sind zwiespältig. Denn sie verbergen, dass Jesus sich in diese Texte nicht „zurück“ bewegen musste, sondern als Jude selbst aus und in diesen Texten lebte: Sie sind seine Gegenwart, aus denen heraus er – wie im Judentum üblich – sein Evangelium als Auslegung der Thora formuliert. Die tiefe Glaubenserfahrung, dass Gott seine Welt und deren Menschheit bedingungslos liebt – wahrhaftig eine Revolution, da ist dem Bischof zuzustimmen – ist nicht die Erfindung des Jesus von Nazareth, sondern der Glaube, aus und in dem die gesamte Hebräische Bibel verfasst ist und in dem Jesus lebt und wirkt.

Das Neue ist im biblischen Denken nie radikal neu

Die Revolution der Liebe, ja die gibt es: Aber sie beginnt mit der Schöpfung und wird in zahlreichen Bundesschlüssen immer wieder erneuert zur Befreiung und Rettung der ganzen Welt: Im Noah-Bund, im Bund Gottes mit Abraham, im Bund Gottes mit seinem auserwählten Volk, den Juden, und für Christinnen und Christen in einem er-neuerten Bund in und mit dem auferstandenen Jesus von Nazareth, den diese als den Messias erfahren und durch den nun auch die Heidenvölker Anteil am Bund Gottes mit JHWH erhalten werden. Im bibeltheologischen Denken ist das Neue niemals das radikal Neue, sondern das aus dem Geist Gottes Er-Neuerte.

Bischof Curry wird dies alles wohl wissen. Aber dieses Wissen sprachlich in eine Darstellung des christlichen Glaubens zu bringen, die das Judentum subtil nicht nur als Vorläuferin, sondern als Gegenwart betrachtet, aus der das Christentum lebt, das gelingt ihm hier – trotz der Hinweise auf das Alte Testament – nicht wirklich. Indem er die christliche Bewegung zur revolutionärsten erklärt und dies an der Liebe festmacht, lässt dieser Satz – sicherlich nicht böswillig und unbeabsichtigt – das Judentum als überwunden erscheinen und vergessen. In einer christlichen Welt, der – unabhängig von der Konfession – diese Lesart seit Jahrhunderten in Fleisch und Blut übergegangen ist, kann das gar nicht anders gehört werden.

Sensibilität für scheinbaren Gegensatz von Liebe und Gerechtigkeit

Warum ist sie denn gar so streng, wird sich so manche Leserin, so mancher Leser jetzt vielleicht fragen. Ist das nicht beckmesserische Wortklauberei angesichts der spirituellen Wucht und überwältigenden Rezeption dieser Predigt?

Ich möchte erläutern, warum mir diese Sensibilität wichtig erscheint – ohne die spirituelle Qualität der Predigt damit in Frage zu stellen.

a) Das antithetische Denken, das diesem Satz zugrundeliegt, ist bis heute in der Pastoral weit verbreitet – ungeachtet der Tatsache, dass insbesondere das katholische Lehramt die hier mitschwingende Substitutionstheologie längst aufgegeben hat und die Theolog*innen-Generationen im deutschsprachigen Raum nach dem Konzil auch dementsprechend ausgebildet sind. In der Pastoral muss noch gelernt werden, die Größe und Kraft des christlichen Evangeliums aus diesem selbst heraus und nicht in der superlativischen Selbsterhöhung (und damit mitgesagten Verkleinerung anderer) zu beschreiben.  Denn diese Denkfigur ist eine der Quellen für den christlichen Antijudaismus. Dieser wiederum legte die Drachensaat für den Antisemitismus. In Zeiten grassierenden Antisemitismus müssen Christinnen daher sensibel in der Verkündigung sein, wenn sie solche Tendenzen nicht ungewollt verstärken wollen. Gegen etwaiges schlechtes Gewissen, das nun auftauchen könnte, sei gesagt: Antijudaistische Denkformen zu gebrauchen bedeutet keinesfalls, dass man Antisemit sein muss. Sie sind dem kollektiven Gedächtnis so tief eingeprägt, dass niemand umhin kommt, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und seine Glaubenssprache bewusst zu verändern.

Liebe und Gerechtigkeit gehören untrennbar zusammen

b) Die Vorstellung, dass Jesus gleichsam ein neues Gottesbild gebracht hat – Gott ist die bedingungslose Liebe – ist nicht nur theologisch unzureichend und falsch, sie ist auch gefährlich. Zum einen lebt die ganze Hebräische Bibel aus dieser Erfahrung der bedingungslosen Liebe Gottes. Zum anderen hat diese Vorstellung in Geschichte und leider auch in der Gegenwart dazu geführt, dass die Liebe als Überwindung von Gesetz – und damit auch von Gerechtigkeit – betrachtet wird. So glauben auch heute noch viel zu viele Gläubige, dass Liebe und Gerechtigkeit einander gleichsam als widersprüchliche Pole gegenüberstehen bzw. die Liebe Gesetze überflüssig macht. Bibeltheologisch ist das vollkommen falsch. Liebe und Gerechtigkeit gehören untrennbar zusammen, sie sind gleichsam zwei Seiten einer Medaille. Das Gegenteil der Liebe und der Gerechtigkeit sind Ignoranz und Gleichgültigkeit. Liebe ohne Gerechtigkeit, Gerechtigkeit ohne Liebe sind jeweils blind und neigen beide ohne einander zu Willkür und Gewalt. Gerechtigkeit ist die Form jeglicher Liebe. Die Liebe wiederum ist die die Schöpfung durchdringende Macht, die wahre Gerechtigkeit im Sinne Gottes überhaupt erst ermöglicht und ihr Raum eröffnet. Weil das in der Praxis so schwierig ist – denn nur in Gott fallen beide zusammen – erzählt die gesamte Heilige Schrift von diesem Lernprozess, der bis heute andauert.

Arme haben Rechte – die revolutionäre biblische Grundhaltung

c) Das Vergessen der Gerechtigkeit als der Form der Liebe – in der Lehre der katholischen Kirche auch längst überwunden – hat Jahrhunderte fatale Auswirkungen auf die Praxis der Kirche gegenüber den Armen gehabt. Die Armen wurden pauperisiert und man schuldete ihnen Almosen. Dass Arme aber Mit-Menschen sind, gleich in Würde und Wert, und daher Rechte haben – ist eine der zentralen Botschaften der christlichen wie der Hebräischen Bibel, und bis heute eine Revolution im politischen Denken – ist dadurch jahrhundertelang in Vergessenheit geraten. Wie tief diese Einstellung das Denken von Christinnen und Christen bis heute prägt, lässt sich auch in den aktuellen politischen Debatten erkennen, wenn diese ihr Handeln christlich nennen und dabei zwar um die individuelle Verantwortung gegenüber den Armen wissen, es aber ablehnen, dass die Liebe zu den Armen sich auch in Gesetzen und Rechten zum Ausdruck bringen muss.

“when love is the way, poverty will become history”

Bischof Curry weiß übrigens um diesen Zusammenhang von Liebe und Gerechtigkeit, wenn er sagt: „ When love is the way, we will let justice roll down like a mighty stream and righteousness like an ever-flowing brook. When love is the way, poverty will become history.” Dem ist einschränkungslos zuzustimmen.

Autorin

Regina Polak
R. Polak © J. Krpelan

Regina Polak
geb. 1967, ist Assoziierte Professorin am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.  Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sozioreligiöse Transformationsprozesse in Europa, Religion im Kontext von Migration und Flucht, Werteforschung sowie christlich-jüdischer und christlich-muslimischer Dialog aus praktisch-theologischer Perspektive.