Demokratisierung der Arbeitswelt – jetzt!

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Die Corona-Pandemie hat auch gravierende Verwerfungen der Arbeitswelt enthüllt: Vielfach ist klar hervorgetreten, welche Arbeitsplätze wirklich „systemrelevant“ sind, also von zentraler Bedeutung für ein weiterhin funktionierendes gesellschaftliches Zusammenleben unter humanitären Vorzeichen. Auffallend ist dabei aber auch, dass ausgerechnet davon viele schlecht entlohnt, prekär abgesichert und mehrheitlich von Frauen besetzt sind und wenig soziale Anerkennung genießen.

Gleichzeitig beweisen die zahllosen schon seit Wochen im Homeoffice arbeitenden Angestellten ein hohes Maß an Loyalität und Verantwortungsbewusstsein gegenüber ihren Betrieben. Und dennoch zeichnet sich nun weltweit eine extrem hohe Arbeitslosigkeit ab. Gleichzeitig bleibt auch die Klimakrise eine große gesellschaftliche Herausforderung.

Vor diesem Hintergrund haben mittlerweile rund 5.500 WissenschaftlerInnen weltweit ein Manifest veröffentlicht, dessen zentrale Forderung auf eine Demokratisierung der Arbeitswelt hinausläuft – verknüpft mit einer entschlossenen Neuausrichtung der Wirtschaft im Sinne der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit. (https://democratizingwork.org)

Mitbestimmung und Staat

Die wichtigsten Punkte dieses Manifests mit dem Titel „Arbeit: Demokratisieren, Dekommodifizieren, nachhaltig gestalten“ seien hier gleich vorweg zusammengefasst: Menschliche Arbeit ist mehr als eine marktgängige Ressource bzw. Ware; sie besitzt – ebenso wie die arbeitenden Menschen – unbedingte Würde. ArbeitnehmerInnen, die tagtäglich Lebenszeit, Gesundheit, Fähigkeiten und Begabungen in ein Unternehmen investieren, sollen darum dieselben Möglichkeiten zur Mitentscheidung über die Entwicklung ihres Unternehmens haben wie die Investoren von Kapital. Ihre Vertretungen sollten deshalb in Bezug auf betriebliche Mitspracherechte etwa Aufsichtsräten gleichgestellt werden. Zugleich soll die Macht der ArbeitnehmerInnen am Arbeitsmarkt gestärkt werden: Unter Berufung auf Art. 23 der Allg. Erklärung der Menschenrechte soll jedem Menschen, der arbeiten will, seitens der öffentlichen Hand ein ökologisch und sozial nachhaltiger Arbeitsplatz angeboten werden.

Arbeit vor Kapital

Das Manifest verdient gleich in mehrfacher Hinsicht breite öffentliche Beachtung und Diskussion und ist auch vom Blickpunkt der Katholischen Soziallehre aus hochinteressant: Es stellt die in wirtschaftlichen Steuerungsprozessen dominierende Rolle des Kapitals in Frage und die menschliche Arbeit mindestens auf dieselbe Stufe mit diesem. Pp. Johannes Paul II. stellte bereits in seiner ersten Sozialenzyklika „Laborem exercens“ 1981 das herrschende Ungleichgewicht dieser beiden Produktionsfaktoren im kapitalistischen Wirtschaftssystem zur Diskussion und forderte unter dem Leitsatz „Arbeit vor Kapital“ sogar dessen Umkehrung. Aus diesem Grund hat die Katholische Soziallehre auch stets Modelle der innerbetrieblichen Beteiligung und Mitbestimmung seitens der Belegschaften befürwortet. Auf einer ähnlichen Linie bewegt sich das nun veröffentlichte Manifest, wenn es die Einbringung menschlicher Arbeit in den Wirtschaftsprozess ebenfalls als Investition betrachtet. Da hinter dieser Investition letztlich menschliche Subjekte mit personaler Würde stehen, gebührt ihr in einer Wirtschaft, die das Attribut „human“ verdient, auch Vorrang vor dem – zumal oft anonym bleibenden – Kapital, was konkret in der Beteiligung bzw. Gleichstellung der „Arbeit“ bei unternehmerischen Entscheidungsprozessen zum Ausdruck kommen soll.

Exkurs: Man könnte vor diesem Hintergrund mit Fug und Recht auch einmal die gängigen Begriffe „ArbeitnehmerIn“ und „ArbeitgeberIn“ kritisieren und vorschlagen, sie gegeneinander auszutauschen: Menschliche Arbeit ist mehr als eine Ressource bzw. ein Kostenfaktor in betriebswirtschaftlichen Rechnungen, sondern stets Lebensäußerung personaler Subjekte. Daher sind es in der Realität doch die arbeitenden Menschen, die im Produktionsprozess ihre Arbeit einbringen und in diesem Sinne „geben“, während sie von den Unternehmen in ihren Dienst „genommen“ wird. Sprache schafft bekanntlich Bewusstsein und gemäß traditionellen (wenngleich in der Realität nicht immer gelebten) Moralvorstellungen „ist Geben seliger als Nehmen“ (also auch moralisch höherwertig). Deswegen sollten arbeitende Menschen tatsächlich als die eigentlichen „ArbeitgeberInnen“ gelten, während Unternehmen zwar Arbeitsplätze zur Verfügung stellen, die menschliche Arbeit selbst aber für ihre Zwecke in Anspruch „nehmen“.

Machtverschiebung am Arbeitsmarkt

Freilich gibt sich das vorliegende „Manifest zur Demokratisierung der Arbeit“ nicht mit bloß moralischen Appellen bzw. sozialphilosophischen Überlegungen zufrieden. Mit seiner zweiten Forderung einer „Dekommodifizierung der Arbeit“ macht es auf einen in der Realität entscheidenden Punkt aufmerksam: Die Kommodifizierung als Prozess des „zur Ware Werdens“ unterstützt zwar das Wirtschaftswachstum, führt aber gleichzeitig zu einer „Entbettung“ der Marktwirtschaft aus den sozialen Beziehungen – wie der renommierte ungarisch-österreichische Ökonom Karl Polanyi schon 1944 feststellte. Unter diesen Bedingungen würde die Marktwirtschaft zur „Teufelsmühle“, die dringend einer „Einbetttung“ in die sozialen Beziehungen durch Dekommodifizierung bedarf.

In einer durchgängig auf Marktmechanismen fußenden Wirtschaft wird auch menschliche Arbeit wie eine Ware gehandelt. In den vergangenen Jahrzehnten wuchs die Produktivität enorm, v.a. aufgrund rasanter wissenschaftlicher Erkenntnisszuwächse und des daraus resultierenden technologischen Fortschritts. Anders als in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg gingen Produktionszuwächse in den letzten Jahrzehnten nicht mehr mit einer Reduktion der wöchentlichen Normal-Erwerbsarbeitszeit einher. Technischer Fortschritt – z.B. die Digitalisierung – führte daher oft zum „Weg-Rationalisieren“ von Arbeitsplätzen. Die Profite der Unternehmen stiegen deutlich mehr als die Löhne der Beschäftigten. Gleichzeitig fanden in den letzten Jahrzehnten auch neue Gruppen den Weg in den Arbeitsmarkt: Technischer Fortschritt (z.B. Waschmaschinen und Küchengeräte) und kommodifizierte Angebote der Betreuung von Kindern und älteren Menschen ermöglichten vielen Frauen die Berufstätigkeit.

Auf den internationalen Arbeitsmärkten steht nun ein (stetig wachsendes) Überangebot an menschlicher Arbeitskraft einer relativ dazu geringer werdenden Nachfrage gegenüber. (Das gilt auch unbeschadet der Tatsache, dass es in einzelnen Branchen immer auch eine Knappheit entsprechend qualifizierter Arbeitskräfte geben mag.) Die logische Folge: Die Marktposition bzw. Verhandlungsmacht der ihre Arbeitskraft zu Markte tragenden Menschen verschlechtert sich zusehends; sie stehen in einem gnadenlosen Konkurrenzkampf gegeneinander. Als ein Mittel dagegen fordert das Manifest den Eingriff der öffentlichen Hand: Sie soll allen Menschen, die arbeiten wollen, Arbeitsplätze bieten; denn für ein gutes gesellschaftliches Zusammenleben und zugleich für eine sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung nötige und sinnvolle Arbeitsmöglichkeiten gibt es stets genug – auch ohne das ökologisch nicht länger vertretbare weitere Wachstum einer bloßen Konsumgüterwirtschaft.

Weil dafür die „entbetteten“ Märkte nur unzureichende Ergebnisse brachten, erscheint der Eingriff der öffentlichen Hand mehr als geboten. Neben dem dadurch stimulierten Wachstum des sozial-ökologischen Sektors würde damit – ähnlich wie bei Modellen eines Bedingungslosen Grundeinkommens – auch die Verhandlungsmacht der arbeitenden Menschen auf den Arbeitsmärkten entscheidend gestärkt. Sie müssen angesichts vorhandener Alternativen zum Erwerb ihres Lebensunterhalts ihre Arbeitskraft nicht mehr um jeden Preis zu Markte tragen. Die Arbeitsmärkte würden sich dadurch in Richtung jenes Gleichgewichts verändern, das sie zu einem menschendienlichen Funktionieren benötigen.

Sozial-ökologische Transformation

Durch den Eingriff der öffentlichen Hand würde wohl der sozial-ökologische Wirtschaftssektor wachsen. Das wäre sicherlich ein entscheidender Faktor bei der Bewältigung der Klimakrise. Die vom Manifest insinuierten positiven Auswirkungen der Gleichstellung von Arbeit und Kapital bei innerbetrieblichen und strategischen Entscheidungen der Privatwirtschaft auf eine sozial-ökologische Transformation bleiben indes abzuwarten.

Es mag als eine Schwäche des vorliegenden Manifests gelten, dass es nichts sagt zur Finanzierung des massiven Engagements der öffentlichen Hand. Angesichts der riesigen Summen, die jetzt ohnehin seitens der Staaten zur „Rettung“ bzw. Wiederankurbelung der Wirtschaft infolge der Pandemie-Krise aufgebracht werden, scheint diese Frage aber eher zweitrangig. Das Manifest versteht sich im Wesentlichen wohl auch als Aufruf zur sinnvollen Allokation genau dieser gewaltigen Mittel. Eine umfassende solidarische Ökologisierung der Steuersysteme zur Deckung des gestiegenen Finanzbedarfs der öffentlichen Haushalte scheint jedenfalls in der direkten Logik des Manifests zu liegen.

Autor

Dr. Markus Schlagnitweit
Theologe, Sozial- & Wirtschaftsethiker,
korrespondierendes Mitglied der ksoe