Populismus, Emotionen und Demokratie

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Herbstzeit ist heuer Wahlzeit …  Wenn wir uns etwa in die 1970er-Jahre versetzen könnten, wären die unterschiedlichen politischen Angebote viel deutlicher als heute. In unserer Zeit ist die politische Kartografie dynamischer, pluraler und eindeutig viel konfuser geworden, da wir heute vor einer Zukunft stehen, die offener denn je erscheint. „Alles ist miteinander verbunden“,  wiederholt Papst Franziskus in seiner Enzyklika Laudato si’. Die gegenseitige Abhängigkeit innerhalb und außerhalb der eigenen nationalen Grenzen nimmt zu.

Populismus – Mode, Ausrutscher oder Vision?

So viel Offenheit klingt theoretisch sehr schön, macht vielen aber auch Angst. Wenn hinzu noch andere negative Emotionen kommen, dann bildet sich die Bereitschaft zur Akzeptanz populistischer Politik.  Was aber ist Populismus? Der Begriff wird meist so konfus und instrumentalisiert – häufig als Schimpfwort – verwendet, dass er Gefahr läuft, als das zigste Modewort abgewertet zu werden. Persönlich ringe ich nicht um Vokabel, glaube aber mit Umberto Eco, dass es guttut, zwischen verschiedenen Phänomenen zu unterscheiden. Denn nur durch Klarheit sind Menschen in der Lage, gezielt zu handeln.

Zugegeben: Noch heute wird über den Begriff Populismus diskutiert. Denn es geht um ein politisches Muster mit unterschiedlichen Wurzeln und unterschiedlichen Grads an Intensität, je nach den Umständen. Es lohnt sich aber, Menschen Gehör zu schenken, die das Phänomen seit langer Zeit verfolgen: Populismus ist viel mehr als ein Überrest alter Zeiten oder eine Art punktueller „Ausrutscher“ aus der politischen Korrektheit.

Populismus ist eine politische Vision mit ihren Theoretikern. Diese Vision korreliert mit einer Präferenz für gewisse Handlungs- und Kommunikationsstrategien. Sie kann unter gewissen Umständen politischen Erfolg haben. Und sie ist und wirkt zwangsläufig antidemokratisch.

Politische Vision: Fortschritt mit Rückschritten

Populismus ist keine primitive, antimoderne Art, Politik zu betreiben. Vielmehr entsteht er infolge der Moderne und ihrer Widersprüche. Es geht um eine Antwort auf soziale Krisen, die von neoliberal gestalteten Globalisierungsprozessen immerzu generiert werden. Wie die totalitären Modelle, die 1945 besiegt wurden, ist Populismus streng gegen Eliten, aber im Unterschied zum Faschismus und Altkommunismus stellt der Populismus die Demokratie theoretisch nicht infrage. Er versucht, aus einer Massengesellschaft eine homogene und somit politisch wirksame Einheit zu machen.

Das Herz populistischer Projekte ist „das Volk“. Nicht die Nation, die nicht nur als Herkunftsgesellschaft, sondern auch als Gemeinschaft aller BürgerInnen erlebt werden kann. Das Volk als solches gibt es aber nicht: „Populist ist, wer sich ein virtuelles Bild vom Willen des Volkes macht.“ (Umberto Eco) Dieses Bild muss aber sehr scharf sein, um trotz Virtualität zu bestehen. Dies erklärt die Bedeutung der Dialektik „wir“ (Volk) und „die anderen“ (Feinde).

Links oder rechts?

Traditionelle Kategorien wie „links“ und „rechts“ gelten nicht, um Populismus näherzukommen. Im Grunde genommen sind Populisten scharfe KritikerInnen der Moderne. Sie glauben nicht an das Integrationspotenzial klassischer repräsentativer Demokratien und versuchen daher, ihr Land durch Pragmatismus (Konstruktion einer inexistenten Homogenität) politisch operativ zu gestalten. Die ideologische Orientierung des Projektes, das in der Folge unterstützt wird, kann variieren.

Sie auf Opportunisten zu reduzieren, ist ein großer Irrtum. Populismus als politische Theorie muss ernst genommen werden. Die Verteidigung der repräsentativen Demokratie führt zur Konfrontation mit anderen Sichtweisen von Gesellschaft und Politik, die gerade an diese repräsentative Demokratie nicht glauben.

Im wohlhabenden Europa generiert eine neoliberal geleitete Weltwirtschaft nach wie vor VerliererInnen, und Menschen werden bloß als Konsumenten oder Produzenten wahrgenommen. Das Pikante dabei: Ein Großteil des Unbehagens der  BürgerInnen, die Populismus unterstützen, wird von derselben neoliberalen Wirtschaftslogik produziert, mit der Populismus problemlos zusammenleben kann, wenn seine VertreterInnen politische Verantwortung übernehmen.

Strategien: Das Ziel diktiert den Weg

Wie kann Homogenität in Gesellschaften entstehen, die immer verschiedener und kulturell vielfältiger sind? Diese Homogenität kann nur konstruiert werden. Wie? Populisten wissen, dass politische Herrschaft auf kultureller Herrschaft baut. (Villacañas)

Die Sprache ist das Werkzeug, mit dem im Populismus Homogenität geschaffen wird. Es geht aber nicht um eine argumentative Sprache, sondern vielmehr um Emotionen, denn durch Emotionen werden Menschen kollektiv mobilisiert. Insbesondere, wenn ganz klar definiert wird, wer dazugehört und wer nicht. Daher die Bedeutung von Expressionismus: Gefühle, Werte und Identifizierungen werden immer wieder ausgedrückt und inszeniert.

Mit Argumenten wird dafür salopper umgegangen. Wichtig im populistischen Sprachgebrauch ist die Rhetorik; sie muss Biss haben, selbst wenn diese auf Halbwahrheiten, falschen Argumenten (fallacies) oder sogar auf fake news (etwa, dass der Kandidat zum Bundespräsidenten schwer krank oder an der Schwelle einer Demenz sei) baut.

Manichäismus ist der Eckstein populistischer Rhetorik. Die Trennlinie zwischen „wir“ und „die anderen“ kann hier und da angepasst werden, sie muss aber immer existieren, denn sie verschafft die Kohäsion des „Volkes“, d. h. jenes Teils der Gesellschaft, der die Herrschaft für sich allein beansprucht. Populistische Sprache ist kuschelig nach innen und scharf nach außen.

Für populistische Zwecke ist eine intelligente und systematische Anwendung von Propaganda unbedingt erforderlich. Diese Propaganda zielt nicht darauf ab, Partikularinteressen im Rahmen eines sozialen Dialogs besser zu vertreten (was an sich legitim wäre), sondern vielmehr darauf, durch ständige Präsenz in der öffentlichen Meinung auffällig zu werden und  die maximale Kontrolle der res publica  zu erreichen. Umberto Eco hat einige dieser Strategien beobachtet. Zu diesen zählen beispielweise:

  • Platte, nicht unbedingt wahre Äußerungen, die nicht geglaubt werden sollen, aber leicht in Erinnerung bleiben.
  • Auffällige Äußerungen (Mauer zwischen Mexiko und  den USA). Wichtig ist die Allgegenwärtigkeit des Leaders in der Öffentlichkeit.
  • Monopolisierung gemeinsamer Werte: „Wir sind die Einzigen, die an die Heimat denken oder das Christentum verteidigen.“
  • Extreme verbale Aggressivität gegenüber Gegnern und dafür Klage über die eigene Verfolgung („wir werden ausgegrenzt“).
  • Ständiger Appell an kollektive Heimatgefühle durch Aktivierung von Emotionen (Fahnen, Musik, Umzüge usw.)
  • Ständiger Bezug auf ein Komplott. Identifizierung eines vermeintlichen Feindes, der versucht, das Land zu ruinieren oder zu vernichten.
  • Dämonisierung des Gegners

Volk und Leader

Für eine solche politische Vision sind komplexe Begriffe à la Habermas wie etwa Verfassungspatriotismus definitiv zu abstrakt. Darüber hinaus eignen sich Konzepte zu einer unerwünschten Vielfalt von Interpretationen. Leader hingegen sind immer konkret. Durch die Konvergenz der Zuneigung und Anhängerschaft so vieler Individuen in ihrer Person schaffen sie die soziale Kohäsion des Volkes. Die wichtigste Funktion des Leaders ist es, das Volk zu verkörpern.

Diese Logik steht hinter den Versuchen, Institutionen zu relativieren oder ihre Kompetenzen zu begrenzen:  Sie seien zu anonym, sie erschweren die direkte Kommunikation in der Dyade Volk–Leader.

Populisten sind immer die anderen

Taguieff warnte schon lange: Populismus rückt in die Mitte! Altkanzler Vranitzky sagte einmal, dass „politisches Leben kein Mädchenpensionat“ sei. Das Parkett der Politik war immer hart und sehr häufig unfair. Etablierte Parteien sind heute aber versucht, zu wirksamen populistischen Strategien zu greifen, um Wahlen zu gewinnen. Das ist auch Populismus.

Solche Strategien können zwar kurzfristig erfolgreich sein, mittelfristig sind sie aber schädlich. Wie partikularistische Interessen oder krankhafter Protagonismus führen sie in unterschiedlichem Ausmaß, je nach konkretem Fall, unweigerlich zur Aushöhlung der Demokratie.

Aufstand gewisser Emotionen

Merkwürdig,  wie manche Phänomene, die uns sehr aktuell vorkommen, im Grunde nichts Neues sind! In seiner Reflexion über die Zwischenkriegszeit (1918–1939) erklärt der Historiker René Remond die Krise der damaligen demokratischen Regime, weil diese in einigen Ländern  – wie Ungarn, Tschechoslowakei – als „zu neu“ (unerfahren), in anderen – Großbritannien, Frankreich – als „zu alt“ (träge, unfähig) erschienen, um damalige Krisen zu meistern.

Um heute an die Macht zu gelangen, müssen PopulistInnen auf BürgerInnen zählen, die entweder eine sehr defizitäre Erfahrung von repräsentativer Demokratie haben oder von dieser repräsentativen Demokratie und ihren VertreterInnen zutiefst enttäuscht sind. Hier lohnt sich ein Perspektivenwechsel, um kurz über Emotionen und ihre politische Rolle nachzudenken.

Seit Antonio Damasio (1994) wissen wir, dass wir nicht so rational unterwegs sind, wie wir glauben. Vielmehr gibt es eine innige Verbindung zwischen unseren Emotionen (d. h. unbewussten Gefühlen) und unserer Denkweise. Emotionen, Gefühle, Gemütsstimmungen … all diese inneren Befindlichkeiten nicht rationeller Art sind überaus wichtig, um in Kontakt mit der Realität im Privatbereich und auch im sozialen Leben zu kommen. Generell könnte behaupten werden: Je mehr Menschen ihre Emotionen verarbeiten, desto erfahrener, reifer, ausgewogener werden sie bei ihren Urteilen.

Aus diesen Gründen sind Emotionen immer sozial relevant. Sehr oft sind sie positiv, wie etwa Sympathie, Mitleid, Identifizierung. Emotionen können aber auch negativ wirken. Heute stellen unterschiedliche Fachleute das Vorhandensein weit verbreiteter Ängste unter der Bevölkerung in den EU-Ländern fest, nämlich Angst vor dem Verlust des erworbenen Wohlstandes sowie Angst vor dem Verlust der eigenen kulturellen Identität. Bis dato geht es um eine signifikante Minderheit, die Tendenz steigt aber.

„Wir sind in ein Zeitalter der Unsicherheit eingetreten. Wirtschaftliche Unsicherheit, physische Unsicherheit, politische Unsicherheit. Dass das weitgehend unbemerkt geschehen ist, ist kein Trost. (…)

Unsicherheit erzeugt Angst. Und Angst – Angst vor Veränderung, Angst vor sozialem Abstieg, Angst vor Fremden und einer fremden Welt – zerfrisst das wechselseitige Vertrauen, auf dem die Bürgergesellschaft beruht.“

(Tony Judt, Dem Land geht es schlecht. 2011, Hanser, S. 17)

Phänomene wie Wirtschaftskrisen, häufige oder schwerwiegende Fälle von Korruption, ineffiziente Institutionen, sichtbare Verstöße gegen das proklamierte Prinzip der Gleichbehandlung fördern auch Enttäuschung und Empörung. Auf diese folgen etwa allgemein verbreitete Interesselosigkeit, Sehnsucht nach einem starken Führer, Anzeichen von Sozialdarwinismus und Fremdenfeindlichkeit, wechselseitige Entfremdung zwischen einer politischen Klasse und dem Rest der BürgerInnen. Und das ist gerade der Wind, mit dem Populisten segeln.

Negative Emotionen sind neurologisch gesehen primärer und leichter wachzurufen als positive. Es fällt auch schwerer, diese negativen Emotionen zu verarbeiten. Verunsicherung verlangt nach Sicherheit und sogar nach Geborgenheit. Empörte Leute neigen dazu, sofort Schuldige zu identifizieren. Dazu nur ein trauriges Beispiel: Am 17. August fand das Attentat auf den Ramblas von Barcelona statt. Zwei Tage darauf war auf den Straßen und in den sozialen Netzen Spaniens eine Mauer von Islamophobie sichtbar, gegen die allerlei Argumente – zumindest kurzfristig – anprallten. Wie wir alle mit weit verbreiteten negativen Emotionen umgehen, ist politisch sehr relevant. Solche Emotionen zu benutzen, um die Dynamik „wir“/„die anderen“ aufrechtzuerhalten, ist schlicht antidemokratisch.

Demokratie … aber welche?

Seit dem Sieg der Totalitarismen im Jahre 1945 ist Demokratie eine Art kultureller Selbstverständlichkeit geworden. Überall auf der Welt handeln PolitikerInnen in ihrem Namen. Sogar Diktatoren und autokratische Staatsleute tun dies. Was aber ist dann Demokratie?

Demokratie ist das einzige politische System, das viel mehr erfordert als die passive Akzeptanz der BürgerInnen. Das ist etwas Besonderes, das es bei keinem anderen politischen System gibt.

  • Ein demokratischer Konsens impliziert, dass Menschen zusammenleben wollen und damit einverstanden sind, ihre Souveränität nach bestimmten Grundregeln und über gewisse Kanäle – Institutionen – zu artikulieren. Das ist eben eine „repräsentative“ Demokratie.
  • Demokratische Systeme können nur dort bestehen, wo die BürgerInnen eine demokratische Kultur verinnerlichen, teilen und sich am Leben der „Republik “ (res publica) beteiligen. Die Grundlagen dieser demokratischen Kultur sind die Gleichstellung aller Menschen vor dem Gesetz, die in einem Land leben; die saubere Trennung der legitimen Gewaltformen; ein offener sozialer Dialog als Mittel zum Umgang mit Interessenkonflikten; sozialer Zusammenhalt.

Hier geht es um viel mehr als um Schönreden: Werden diese erwähnten Prinzipien nicht respektiert, dann wird die Demokratie unweigerlich ausgehöhlt, selbst wenn ihre klassischen Institutionen bestehen bleiben.

In dieser Hinsicht behaupten einige ExpertInnen, dass populistische Parteien heute in Europa in erster Linie ein Warnsignal sind. Ihre Präsenz und ihr Wort decken schonungslos einige Widersprüche und Mankos der repräsentativen Demokratie auf. Warnsignale ernst zu nehmen, tut immer gut. Denn was die BürgerInnen heute dringend benötigen, sind neue Wege und Formeln, um aktuelle Herausforderungen so gut es geht in einem echten, möglichst breiten sozialen Konsens zu meistern. Insbesondere, wenn diese neuen Wege zuweilen schmerzhaft sein können.

Autorin:

Paloma Fernández de la Hoz
P. Fernández de la Hoz

Paloma Fernández de la Hoz
Historikerin, Pädagogin, Sozialwissenschafterin, Kooperationspartnerin der ksoe

 

Literatur:

Populismus
Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 5-6/2012): Populismus (als PDF-Datei frei zum Herunterladen: http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/APuZ_2012-05-06_online2.pdf . Zugriff: 4.8.2017)

Diehl, P. Die Komplexität des Populismus. In: Totalitarismus und Demokratie 8 (2011), 2, pp. 273-291. (http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-326313 .  Zugriff: 4.8.2017).

Eco, U. (2007): Im Kerbsgang voran. Heiße Kriege und medialer Populismus. München: Hanser.  (Siehe S. 106–138.)

Holtmann, E u.a. (2006): Die Droge Populismus. Wiesbaden: SV.

Laclau, E. (2005): La razón populista. Buenos Aires: FCE. (2005: On Populist Reason. London: Verso Books)

Taguieff, P.A. (2002): L’illusion populiste. Paris: Éditions Berg International.
Taguieff, P.A. (2012): Le nouveau national populisme. Paris: CNRS.

Villacañas, J.L. (2015): Populismo. Madrid: La Huerta Grande.

Interview mit Karin Priester am 25.7.2017: „Populisten sind eigentlich Reformer“

Emotionen
Damásio, Antonio (1994): Descartes’ Irrtum – Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München: List. Interview mit A. Damasio am 4. Juni 2014: „Ohne Gefühle lernt man nichts“

Nussbaum, Martha (2001): Upheavals of Thought: The Intelligence of Emotions. Cambridge University Press (Interview).

Ebenfalls empfehlenswert
Für Interessierte an die grenzenlosen Möglichkeiten falscher Argumentationsformen siehe: Master list of logical fallacies (http://utminers.utep.edu/omwilliamson/engl1311/fallacies.htm. Zugriff: 4.8.2017).