Wozu wirtschaften wir eigentlich? Diese Frage wirkt zunächst reichlich banal, denn die Erfahrung im Alltag zeigt: Wir wirtschaften in erster Linie, um unseren Lebensunterhalt zu bestreiten, also Nahrung, Kleidung, Wohnraum, Kommunikation und Mobilität zu bezahlen. Umso erstaunlicher ist, dass noch bis vor wenigen Jahren der Eindruck entstehen konnte, Wirtschaften sei ein reiner Selbstzweck. Zumindest wurde „Wirtschaft“ oft zu einem solchen umgedeutet, als es hieß, dass es den Menschen gut gehen werde, wenn es der Wirtschaft gut ginge. Aber wenn das menschliche Wohlergehen dem Wohl der Wirtschaft nachgeordnet ist, wozu dient dann das „Wirtschaften“?
Kurios dürften es auch Studierende der Wirtschaftswissenschaften (Ökonomik) empfinden, wenn sie im Studium lernen, wie Markt- und Gleichgewichtslöhne kalkuliert werden, dabei aber gar nicht die Frage auftaucht, ob diese Löhne die Existenz sichern. Denn in dem Moment, wo die Existenz der Individuen vom Marktsystem nicht mehr sichergestellt ist, fällt das gesamte Marktsystem in sich zusammen, weil ihm der Produktionsfaktor Arbeit und die Nachfrage wegbricht. Nicht weniger verwunderlich ist, dass der ökonomische Modellmensch (homo oeconomicus) aus allen möglichen Dingen einen Nutzen zieht, den es zu maximieren gilt, nur an der eigenen Selbsterhaltung hat er offenbar kein großes Interesse.
Ebenso ist in der Diskussion um die Soziale Frage (Mindestsicherung, Mindestlohn usw.) immer wieder zu beobachten, dass die eben erwähnte Existenzsicherung ins Hintertreffen zu geraten droht. Die Diskussionen entzünden sich dann oft an Beträgen und so entfernen sie sich meist von der zentralen Grundidee, dass diese Beträge der Existenzsicherung dienen sollen. Es wird dann überwiegend von Kosten und der Wirkung auf den Arbeitsmarkt gesprochen. Letzteres liegt offensichtlich auf der Hand, wenn der Sozialstaat primär als Instrument des Arbeitsmarktes begriffen wird: Über den Sozialstaat sind dann die „Anreize“ so zusetzen, dass möglichst viele Menschen ihre Arbeitskraft am Arbeitsmarkt anbieten. Der Mensch gerät so zur Randfigur und zum reinen Zweck des Wirtschaftens, wo er mit Immanuel Kants berühmter Zweckformel des Kategorischen Imperativs eigentlich sich selbst zum Zweck haben können sollte.
Der Mensch ist auch der Weg des Wirtschaftens…
Ganz im Gegensatz zum Eindruck eines nur sich selbst genügenden Wirtschaftsdenkens stellte der Sozialethiker P. Johannes Schasching (1917-2013) den Menschen ins Zentrum der Betrachtung. Davon zeugt der von ihm überlieferte legendäre Imperativ: „Handle stets sachgerecht, menschengerecht und gesellschaftsgerecht.“
Damit wiederum lässt sich an die eingangs erwähnte Alltagserfahrung anknüpfen: Denn wenn wir das Wirtschaften in den Dienst an den Menschen stellen wollen, haben wir zu berücksichtigen, dass die Selbsterhaltung einen primären Wirtschaftszweck darstellt. Das bedeutet nicht, dass das Erzielen von Gewinn auf einmal gar keine Rolle spielen soll. Doch ein auf Gewinn abzielendes Unternehmen, das die Selbsterhaltung der an der Produktion beteiligten Menschen außer Acht lässt oder diese sogar verletzt, kann im Sinne Schaschings weder sach-, noch menschen-, noch gesellschaftsgerecht sein.
Die moderne Subsistenzethik
Diese Überlegungen bilden den Grundstock einer modernen Subsistenzethik. Im Zentrum dieser modernen Subsistenzethik steht das, was in internationalen Fachkreisen als „right to subsistence“ bezeichnet wird. Dieses Subsistenzrecht ist nicht als Gesetzestext gemeint. Stattdessen stellt es ein Moralprinzip dar, das allerdings durchaus Anleitung geben kann, um entsprechende Gesetzestexte zu formulieren. Dieses Subsistenzrecht als Moralprinzip lässt sich durch folgende drei Ansprüche konkretisieren.
Zu nennen ist erstens der Anspruch auf Erhaltung der Lebensfähigkeit. Dieser ist nicht auf die rein physischen Bedürfnisse reduziert, sondern begreift die Menschen als Gesellschaftswesen. Der Anspruch auf Lebensfähigkeit umfasst damit auch die Möglichkeit zur Teilnahme und Teilhabe an der Gesellschaft, z. B. durch den Zugang zu Informationen und die Möglichkeit zur Pflege von Sozialbeziehungen. Einschränkungen der Lebensfähigkeit bedeuten deshalb nicht den sofortigen Tod, wohl aber eine Verminderung der Lebensqualität. Letztere kann sich wiederum in einer niedrigeren Lebenserwartung niederschlagen, weil z. B. Stress besteht, die Ernährung nicht ausgewogen ausfällt, Arztbesuche nur noch sporadisch erfolgen oder sich Menschen zurückziehen bzw. isolieren.
Zweitens besteht ein Anspruch auf Selbsterhaltung (Subsistenz), also die Möglichkeit, über die Lebensfähigkeit hinaus das eigene Leben selbst in die Hand nehmen – es gestalten – zu können. Wichtig ist dabei, dass Selbsthilfe und Selbstentfaltung möglich sein sollen, ohne (!) von der geistigen, körperlichen und sozialen Substanz zehren zu müssen (d.h. ohne die Lebensfähigkeit zu gefährden).
Der dritte Anspruch bezieht sich auf die ethische Legitimität von Handlungsabsichten, Theorien, politischen Instrumenten usw. Dieser Anspruch läuft somit auf einen Legitimationsvorbehalt hinaus, der zum Perspektivwechsel und zum Dialog/Diskurs auffordert. Perspektivwechsel bedeutet hier, dass ich: a) das, was ich für mich als zumutbar erachte, mindestens auch anderen zugestehen muss; und b) das, was ich für mich als nicht zumutbar empfinde, anderen nicht abverlangen kann.
Die Unterscheidung in Lebensfähigkeit und Selbsterhaltung hilft vor allem bei der Beurteilung sozialpolitischer Instrumente. Denn es ist ein großer Unterschied, ob der Sozialstaat darauf ausgerichtet ist, einzig die Lebensfähigkeit zu gewährleisten, oder ob er die Bürgerinnen und Bürger tatsächlich in die Lage versetzt, sich selbst zu helfen und das Leben selbst zu gestalten. Außerdem kann so auch deutlich auf Situationen aufmerksam gemacht werden, in denen „nach außen“ hin zwar der Anspruch besteht, subsidiär Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, die Mittel zur Selbsthilfe aber soweit abgesenkt sind, dass dazu von der eigenen Substanz gezehrt werden muss (also die Lebensfähigkeit bedroht ist).
Der Anspruch auf ethischen Legitimationsvorbehalt ist deshalb wichtig, weil das, was Lebensfähigkeit und Selbsterhaltung ganz konkret umfassen sollen, dem gesellschaftlichen und technologischen Wandel unterliegt. Zu denken wäre dazu an das Internet: Ohne Zugang zum Internet ist heute kaum noch gesellschaftliche Teilhabe möglich. Insofern fordert der Anspruch auf ethischen Legitimationsvorbehalt auch dazu auf, prozesshaft, dynamisch sowie dialogorientiert zu denken und zu handeln. Dort, wo sich z. B. Politikerinnen und Politiker oder Ökonominnen und Ökonomen bei ihren wirtschafts- und sozialpolitischen Empfehlungen einem Perspektivwechsel und einem echten Dialog mit den Betroffenen verweigern, besteht die Gefahr, dass die daraus erwachsenden Verhältnisse von den Betroffenen als nicht menschen- und gesellschaftsgerecht betrachtet werden.
Es liegt auf der Hand, dass dies vor allem dort von elementarer Bedeutung ist, wo über ein Existenzminimum entschieden wird (z. B. in der Mindestsicherung und Notstandshilfe oder beim Arbeitslosengeld II in Deutschland). Wie eine dialog-orientierter Form der Bestimmung solcher Sätze aussehen kann, das deutet sich in der Idee des Referenzbudgets an, die von der Armutskonferenz Vorarlberg vorgeschlagen wird.
„Markthygiene“ und alternatives Wirtschaften
Darüber hinaus kann die moderne Subsistenzethik zur „Markthygiene“ beitragen, wenn „marktwirtschaftliche“ Lösungen daran gemessen werden, ob und inwiefern sie der Selbsterhaltung der Menschen dient. Marktwirtschaftliche bzw. wettbewerbliche Lösungen dürfen dann nur dort realisiert werden, wo sie nicht Selbstzweck sind, sondern auch wirklich „effizient“ im Sinne von sach-, menschen- und gesellschaftsgerecht wirken.
Spiegelbildlich dazu liefert die moderne Subsistenzethik auch Gründe an die Hand, alternative Wirtschaftsformen anzugehen und zu fördern. Nämlich dort, wo „marktwirtschaftliche“ Lösungen schädlich wirken oder im Vergleich zu z. B. solidarischen Wirtschaftsformen weniger menschengerecht sind.
Schlussgedanken
Die Idee eines Subsistenzrechts als Moralprinzip mag zunächst abstrakt wirken. Wer sich aber die drei oben formulierten Ansprüche vergegenwärtigt, hält damit Prüfsteine in der Hand, an denen die ethische Legitimierbarkeit von wirtschaftspolitischen Empfehlungen, sozialpolitischen Instrumente sowie ökonomischen Theorien geprüft werden können. Wenn im Sinne Schaschings sach-, menschen- und gesellschaftsgerecht gehandelt werden soll, dann darf die Lebensfähigkeit nicht verletzt, die Selbsterhaltung nicht bedroht und der Dialog mit Betroffenen nicht verweigert sein. Wie eingangs erwähnt, handelt es sich dabei eigentlich um Selbstverständlichkeiten. In Zeiten aber, in denen diese vielfach aus den Blick geraten, kann eine moderne Subsistenzethik dazu beitragen, wieder für diese Fragen und Probleme zu sensibilisieren.
Autor:

Sebastian Thieme
Diplom-Volkswirt und Wirtschaftsethiker, Schasching-Fellow der ksoe 2015/2016. Arbeitsschwerpunkte sind u.a.: Subsistenz(ethik), Heterodoxe Ökonomik/Pluralismus in der Ökonomik, ökonomische Misanthropie, katholische Sozialethik, Erwägung und sozialökonomische Ansätze. Homepage: http://economicethics.blogspot.co.at/
Buch-Tipp:
Sebastian Thieme: Menschengerechtes Wirtschaften? Subsistenzethische Perspektiven auf die katholische Sozialethik, feministische Ökonomik und Gesellschaftspolitik (2017)
Informationen und Bestellung: http://www.besserewelt.at/thieme-sebastian-menschengerechtes-wirtschaften
Literatur zur Vertiefung
- Moser, Michaela (2014): Referenzbudgets für soziale Inklusion. FH St. Pölten, online unter, http://www.armutskonferenz.at/files/moser_referenzbudgets_soziale_inklusion-2014_1.pdf [13.07.2016].
- Moser, Michaela u. a. (2010): Referenzbudgets zur Stärkung sozialer Teilhabe. Broschüre der ASB Schuldnerberatungen GmbH, http://www.budgetberatung.at/downloads/infodatenbank/referenzbudgets/referenzbudgets-booklet2010.pdf [13.07.2016].
- Scott, James C. (1976): The Moral Economy of the Peasant: Rebellion and Subsistence in Southeast Asia. Yale University Press: New Haven & London.
- Shue, Henry (1996): Basic Rights. Subsistence, Affluence, and the U.S. Foreign Policy. Zweite Auflage. Princeton/New Jersey/USA: Princeton University Press.
- Thieme, Sebastian (2017): Menschengerecht Wirtschaften? Opladen, Toronto & Berlin: Budrich.
- Thieme, Sebastian (2015): Integratives Wirtschaftsstildenken. In: Heise, Arne; Deumelandt, Kathrin [Hrsg.]: Sozialökonomie – ein Zukunftsprojekt. Marburg: Metropolis, S. 140-165.
- Ulrich, Peter (2016): Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie. Fünfte Auflage. Bern, Stuttgart & Wien: Haupt.
- Voß, Elisabeth (2015): Wegweiser Solidarische Ökonomie. Zweite Auflage. Neu-Ulm: AG SPAK Bücher.
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