Kopernikanische Wende im Sozialstaat Italien?

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Seit Juni hat Italien eine neue Regierung. Die beiden populistischen Wahlsieger – die 5-Sterne-Bewegung mit Arbeitsminister Luigi Di Maio und die Lega mit Innenminister Matteo Salvini – haben sich in einem Koalitionsvertrag zusammengerauft und mit dem parteilosen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte eine Mehrheit im Parlament.

Die beiden Ministerien widerspiegeln die Themen, welche nach Meinung vieler BeobachterInnen die Wahlen gewonnen haben: Die 5-Sterne-Bewegung mit dem „Reddito di cittadinanza“; die Lega mit dem Thema Migration.

Was ist dieses „Reddito di cittadinanza“? Ist es das bedingungslose Grundeinkommen oder eine Form von Mindestsicherung, wie sie in Österreich und anderen europäischen Staaten zum festen Bestandteil des sozialstaatlichen Inventars zählt? Warum das große Echo? Warum kann man damit Wahlen gewinnen, vor allem im Süden Italiens?

Erste Schritte in Richtung Mindestsicherung seit  2017

Nun, Italien ist einer der ganz wenigen Staaten der EU, in welchem es bis 2017 keine staatlich geregelte Mindestsicherung gab. Auf regionaler und kommunaler Ebene gibt es zwar vereinzelt solche Leistungen (z.B. das Soziale Mindesteinkommen in Südtirol); per Staatsgesetz wurde ein solches erst 2017 in Ansätzen eingeführt. Weder die von der Democrazia Cristiana geführten Regierungen der Nachkriegszeit noch die späteren Mitte-Links-Regierungen (z.B. Romano Prodi) haben es geschafft, eine auf dem gesamten Staatsgebiet einheitlich geltende bedarfsorientierte Mindestsicherung einzurichten. Erst die Regierung Gentiloni hat im Laufe der letzten Jahre das SIA (Sostegno per l’inclusione attiva: aktivierende Unterstützungsleistung) eingeführt, welches dann vom REI (Reddito di inclusione: Inklusionseinkommen) abgelöst wurde. Das REI ist eine Weiterentwicklung des SIA: Die Beträge pro Person/Familie sind erhöht, die Zugangsvoraussetzungen (Arbeitsbereitschaft) sind präziser formuliert und neue Verwaltungsstrukturen vor Ort sollen aufgebaut werden. Trotzdem bleiben die Leistungen auf niedrigem Niveau: 187 € bis 539 € monatlich je nach Haushaltsgröße.

Soziale Sicherung in Italien hieß bisher Pensionen

Im sozialen Sicherungssystem Italiens, welches eine fatale Schlagseite in Richtung Rentenabsicherung hat und andere Formen – wie die steuerfinanzierte kategorienübergreifende Mindestsicherung sowie Familienleistungen (Familiengeld und Kinderbetreuungsgeld) – nicht oder nur in geringem Ausmaße kennt, stellt das „Reddito di cittadinanza“ eine wichtige Neuerung dar. So sehr, dass man im krisengeschüttelten Süden Italiens, in dem der Anteil der Personen und Familien unter der Armutsgrenze sehr hoch ist, Wahlen gewinnen kann.

Auf dem Weg zu einer Bedarfsorientierten Mindestsicherung

Bei näherer Betrachtung ist das „Reddito di cittadinanza“ eine Form der bedarfsorientierten Mindestsicherung, welches aufgrund seines Namens (Bürgergeld) schon wie ein bedingungsloses Grundeinkommen klingt. Das Verdienst der 5-Sterne-Bewegung ist, dass sie eine Form der sozialen Grundabsicherung in die Sozialstaatsdiskussion Italiens eingebracht hat. Bereits in der letzten Legislaturperiode wurde der Ges.Entwurf Nr. 1148/2013 von der 5-Sterne-Bewegung im Senat eingereicht und im Programm der neuen Regierung die Einführung der Leistung, wenn auch vage, verankert. Der Gesetzesentwurf spricht von einem Betrag von € 780 monatlich pro volljähriger Person (Rentner/in; Personen in Arbeit oder ohne Arbeit, aber in einem Arbeitseingliederungsprojekt). Der Betrag variiert je nach Haushaltsgröße und Anwesenheit von Minderjährigen: z.B. ein Elternpaar mit drei minderjährigen Kindern kommt auf einen Monatsbetrag von € 1.872 (Daten 2014). Personen ohne Einkommen erhalten den vollen Betrag; ansonsten die Differenz zum Einkommen. Die Bezugsdauer ist unbegrenzt. Die Annahme von Arbeitsangeboten der Arbeitsvermittlungsstellen ist Voraussetzung für den Bezug. Bei Arbeitsverweigerung verfällt der Anspruch. Für die Arbeitsvermittlungszentren und die neu zu schaffenden lokalen Sozialämter eine riesige, mit beachtlichen Kosten verbundene Herausforderung. Italien denkt an eine Finanzierung dieser Kosten über EU-Fonds.

Eine Frage der Umsetzung

Die Umsetzung des „Reddito di cittadinanza“ wird nicht von heute auf morgen möglich sein. Man spricht von Kosten von 15,5 bis 29 Milliarden Euro. Für die Staatsfinanzen, welche unter steter Beobachtung der EU-Kommission und der Finanzmärkte stehen, eine fast unlösbare Herausforderung.

Wie lässt sich dieser Programmpunkt mit der Einführung einer Flat-tax (Forderung der Lega) vereinen? Finanzminister Tria scheint guter Hoffnung. Laut seinen Aussagen sind das „Reddito di cittadinanza“ und die Flat-tax Vorhaben des Jahres 2019 (Corriere della Sera 5.7. und 14.7.18).

Einführung längst überfällig

Die Einführung einer bedarfsorientierten Mindestsicherung ist in Italien seit Jahrzehnten überfällig. Sie wird nur möglich sein, wenn parallel dazu die bestehenden, sich häufig überschneidenden zielgruppenorientierten Mindestsicherungsleistungen (Sozial-, Zivilinvaliden-, Mindestrenten, Leistungen bei Arbeitslosigkeit, andere, vor allem regionale Mindestsicherungsleistungen etc.) radikal reformiert werden. Die Bedingungen für den Zugang zu den Leistungen sind entsprechend mutig auszutarieren. Eben in Richtung einer innovativen Form des Bürgergeldes. Mit weniger Bedingungen. Bedingungslosigkeit ist nicht angedacht. Ob das die 5-Sterne-Lega-Regierung schafft?

Autor

Karl Tragust

Karl Tragust
von 1993 bis 2011 Direktor der Abteilung Soziales der Landesverwaltung Südtirol und von 2011 bis 2016 Präsident des Verwaltungsrates der Landesagentur für Soziale und Wirtschaftliche Entwicklung. Er ist Präsident des Grünen Rates der Partei der VerdiGrüneVerc und Präsident von Sophia – Genossenschaft für Forschung für soziale Innovation, Bozen.